Trauer um Hans-Jochen Vogel

Er kniete sich hinein und handelte solidarisch

Zum Tode von Hans-Jochen Vogel am 26. Juli 2020

Von Christoph Meyer[1]

Hans-Jochen Vogel am 11. Juli 2006 in Dresden

Zweieinhalb Jahre nach Greta Wehner ist nun, 94jährig, auch Hans-Jochen Vogel gestorben. Mit ihm untrennbar verbunden ist die Geschichte des Freundeskreises Herbert-Wehner-Bildungswerk. Er war dessen erster Sprecher und hat den Kreis weit über seine Amtszeit hinaus, die von 1997 bis 2001 währte, maßgeblich geprägt. Mit Hans-Jochen Vogel verlieren wir einen der nachhaltigsten, einflussreichsten und Maßstäbe setzenden Gestalter der deutschen Sozialdemokratie. Und die Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung verliert einen unermüdlichen Fürsprecher, einen ihrer wichtigsten Gründerväter.

Soweit nun das Mindeste, was hier offiziell über Hans-Jochen Vogel gesagt werden musste. Persönlich empfinde ich Trauer und Dankbarkeit. Und möchte hier zum Nachempfinden einladen – hier also einige Erinnerungen an einen besonderen, einen großen Menschen und Politiker.

2004 im Bildungswerk auf der Kamenzer Straße, mit dem Autor

Kennen gelernt habe ich Hans-Jochen Vogel Anfang 1998, als ganz frisch gebackener Geschäftsführer des Herbert-Wehner-Bildungswerkes und damit auch von dessen Freundeskreis. Die sächsischen und niederrheinischen Genossen hatten mich vorab schon gewarnt, aus Erfahrung: Es sei ratsam, Schreiben und Faxe des ehemaligen Partei- und Fraktionsvorsitzenden sorgfältig zu bearbeiten und zügig zu beantworten. Ein gezückter Bleistift mit Papier sei bei Begegnungen sinnvolles Requisit. Und so war es auch: An einem Sonntagmorgen im Februar kam ich wie bestellt gegen halb acht in den Frühstücksraum des Hotels „Martha Hospiz“ in der Dresdner Neustadt. Gemütlich wurde es nicht. Hans-Jochen Vogel hatte bereits fertig gefrühstückt, und er begann gleich stakkatohaft Fragen und zu bearbeitende Punkte zu diktieren. Ich schrieb alles mit und hatte die Tage und Wochen danach einiges zu tun. Geschäftsführer sein bei Hans-Jochen Vogel – und wenn auch nur in einem kleinen, überschaubaren Bereich – erforderte, das lernte ich schnell, eine effiziente Organisation des Büros. Dazu hat Hans-Jochen Vogel uns in Dresden allerdings getrieben – zum Schaden des Freundeskreises und des Bildungswerkes war das nicht.

31. Oktober 1999: Vogel gratuliert Wehner (rechts: Margarete Füßer)

Bis in die frühen 2010er Jahre nun pflegte Hans-Jochen Vogel jedes Jahr zweimal in Dresden zu sein: Einmal im Februar, zur Sitzung des Kuratoriums für den Wiederaufbau der Frauenkirche, und einmal im Juli, zum Freundeskreistreffen aus Anlass des Geburtstags von Herbert Wehner. Mindestens einmal kam er auch „außer der Reihe“, das war am 31. Oktober 1999, zum 75. Geburtstag von Greta. Ich holte ihn mit dem Wehner-Volvo vom Flughafen ab – die Pannengeschichte ist schon Legende[2]. Überhaupt hatte ich so manches Autoerlebnis mit ihm. Einmal habe ich ihn und seine Frau Liselotte mit meiner Frau in München besucht, eine größere Buchspende für die Herbert-Wehner-Bibliothek abholen. Das war noch in der alten Wohnung. Ich erinnere mich lebhaft an drei Stockwerke, eine enge Wendeltreppe aus dem 17. Jahrhundert. An Gastfreundschaft. Und ans Einparken vor der Haustür. Die Parklücke ließ vorne wie hinten jeweils höchstens zehn Zentimeter. Meine Frau fuhr, Hans-Jochen Vogel stand daneben und wies sie ein. Nie zuvor und danach, sagt Margarete, hat sie jemand so schnell, sicher, bestimmt und vor allem erfolgreich in eine Parklücke dirigiert.

Mit dem Volvo in der Kamenzer Straße (2005)

Hans-Jochen Vogel als Beifahrer, das durfte ich öfter erleben. Meist auf Fahrten zwischen dem Dresdner Flughafen und dem Bildungswerk in der Neustadt oder zu Greta in die Tornaer Straße, welche er häufig zu besuchen pflegte. Ins Fahren mischte er sich übrigens überhaupt nicht ein. Aber gleichwohl geriet der Fahrer ins Schwitzen: Es gab immer Fragen zum Zustand und zur Politik der örtlichen, der sächsischen Sozialdemokratie. Skeptische Fragen, kritische Nachfragen. Nicht immer war es ganz leicht, ihm klar zu machen, dass man selbst nur berichten könne, aber nicht selber als Vorsitzender oder ähnliches für die Politik der Kritisierten verantwortlich sei. Angekommen sind wir jedoch immer. Einmal hat er mich im Garten des Bildungswerks im Zwiegespräch in Grund und Boden kritisiert. Ich glaube, es ging um Haushaltszahlen, die ihm widersprüchlich schienen. Jedenfalls kam ich mir danach ganz schön zerzaust vor. Vor dem sich anschließenden Freundeskreistreffen in großer Runde graute es mir schon. Doch das öffentliche Donnerwetter blieb aus. Wie ausgewechselt war Hans-Jochen Vogel, nur voll des Lobes über die „hervorragende Arbeit“ des Geschäftsführers und seines Bildungswerkes. Natürlich war das ein Chef. Aber kein solcher, der seine Leute vor sich her arbeiten ließ, um sie dann vor versammelter Runde genüsslich zur eigenen Machtdemonstration herunterzumachen. Umgekehrt war es: Er kniete sich in die Probleme hinein – und redete und handelte solidarisch.

12. Juli 2001: Dresden hat einen Herbert-Wehner-Platz

Das hat ihn wohl auch mit Herbert Wehner, seinem Vorgänger als Fraktionsvorsitzender im Bundestag, verbunden. Wobei, anfangs haben die beiden sich gar nicht gut verstanden. Als „weiß-blaues Arschloch“, als Karrieristen soll Wehner noch bis weit in die Mitte der 70er Jahre den aufstrebenden Sozialdemokraten aus Bayern gesehen haben. Erst 1977, im Zuge der Schleyer- und Landshut-Entführung verbesserte sich ihr Verhältnis. Als Justizminister und als Fraktionsvorsitzender saßen sie in den Krisenstäben – und traten gemeinsam für ein entschiedenes, aber eben rechtsstaatliches Vorgehen gegenüber den Terroristen ein. Von da an wussten sie, was sie aneinander hatten. Als 1981 in schwieriger Lage ein neuer Regierender Bürgermeister von Berlin gesucht wurde und die Wahl schließlich auf den besten zu bekommenden Mann dafür fiel – Hans-Jochen Vogel – steckte Herbert Wehner ihm einen Zettel zu: „Weiter arbeiten. Und nicht verzweifeln!“

Im Stiftungsbeirat, bei Greta (2010)

Der Gründungssprecher des Freundeskreises Herbert-Wehner-Bildungswerk Hans-Jochen Vogel war für das Gelingen dieses Projekts in Dresden von überragender Bedeutung. Immer wieder kam er nach Sachsen und sprach auf öffentlichen Veranstaltungen aus Anlass des Treffens. So im Herbst 1997 gemeinsam mit Helmut Schmidt auf einem Herbert-Wehner-Abend. Und immer wieder auf öffentlichen Podien des Bildungswerks zu allen möglichen politischen Themen. Oder bei der feierlichen Enthüllung des Straßenschildes „Herbert-Wehner-Platz“ in Dresden im Juli 2001. Zuletzt trat er im Sommer 2010 auf, gemeinsam mit Frank-Walter Steinmeier, es war ein dampfend heißes Podium im Kulturrathaus. In Anlehnung an John F. Kennedy rief er damals auf, nicht nur zu sagen, „was sollen die anderen tun, damit vor Ort etwas geschieht, sondern immer zunächst mal fragen, was können wir selber tun, um die Dinge in Bewegung zu bringen“.

Als er das in Dresden sagte, war er schon neun Jahre nicht mehr im Amt. Mit 75 hatte er im Jahr 2001 den Freundeskreis in jüngere Hände gegeben. Sein Nachfolger wurde Jürgen Schmude, der ihm schon 1981 als Bundesjustizminister gefolgt war. Beides war für den Freundeskreis Herbert-Wehner-Bildungswerk ein Glücksgriff: Er bekam einen umsichtigen, zuverlässigen und überaus klugen Sprecher und behielt in Hans-Jochen Vogel einen wirksamen, weithin bekannten und engagierten Fürsprecher.

Mit Schmudes (Grillfest im Garten des Bildungswerks, 2007)

Das Andenken von Herbert Wehner, die Wahrung der Würde seines toten Vorgängers, hat Hans-Jochen Vogel unermesslich viel zu verdanken. Immer wieder, wenn es in der Öffentlichkeit zu Anti-Wehner-Kampagnen kam, trat Vogel auf den Plan, ob 1994 als ehemaliger Fraktionsvorsitzender gegen Anwürfe der Witwe Willy Brandts und anderer oder 1996/97 als Egon Bahr schwere und unberechtigte Vorwürfe gegen Herbert Wehner erhob. Auch als Bahr dies 2011 wiederholte, war es Hans-Jochen Vogel, der mit dafür sorgte, dass die Anwürfe wirksam widerlegt wurden[3]. Das Projekt einer Herbert-Wehner-Biographie, welche ich 2006 zu Wehners 100. Geburtstag vorlegen konnte, begleitete Hans-Jochen Vogel mit gutem, sachkundigem Rat sowie mit tatkräftigem öffentlichen Engagement.

Im Garten des Herbert-Wehner-Bildungswerks, Juli 2007 – Foto: Fotoreflex.de/Stefan Dietrich

Vogel war es denn auch, der den Impuls gab, das neue Herbert-Wehner-Haus als Projekt mit der Bundesschatzmeisterei der SPD gemeinsam anzugehen. Das war nicht unumstritten, aber Recht bekommen hat Hans-Jochen Vogel: Seit 2019 steht das Haus in Dresden, und in diesem Frühjahr ist das Herbert-Wehner-Bildungswerk mit dem Freundeskreis dort eingezogen. Leider hat er das Haus nicht mehr selbst besichtigen können.

Ohne ihn würde es wohl nicht dastehen.

 

 

[1]             Prof. Dr. Christoph Meyer, Historiker und Vorsitzender der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung, war von 1998 bis 2011 Geschäftsführer des Herbert-Wehner-Bildungswerks sowie des Freundeskreises Herbert-Wehner-Bildungswerk.

[2]             Siehe dazu: Christoph Meyer: Wehners Volvo (https://www.hgwst.de/hgwst/wp-content/uploads/2020/06/Wehners-Volvo.pdf).

[3]             Auf eine Anregung Hans-Jochen Vogels geht auch folgende Veröffentlichung zurück: Christoph Meyer: Bahrs Mutmaßungen über Wehner (https://www.hgwst.de/hgwst/wp-content/uploads/2011/09/Zu-den-Mutma%C3%9Fungen-Egon-Bahrs.pdf).

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