Union verlässt Grundkonsens der Demokratie
Was Wehner dazu sagen würde
Von Prof. Dr. Christoph Meyer
Was Wehner sagen würde? Ich werde ja häufig bei Lesungen und Vorträgen gefragt, was denn in der heutigen Situation Herbert Wehner zu politischen Fragen sagen würde. Meistens antworte ich: Das kann ich nicht wirklich beurteilen, es war eine andere Zeit und es gibt ja auch diesen Spruch, dass jede Zeit ihrer eigenen Antworten bedarf. Das stimmt, Herbert Wehner lebte in einer anderen Zeit, doch diese andere Zeit rückt gerade bedrohlich nahe. Angesichts der Kollaboration der CDU/CSU unter Führung von Herrn Merz im Bundestag mit der AfD, glaube ich als Historiker ziemlich genau sagen zu können, wie Herbert Wehner auf so etwas reagiert hätte. Denn es gibt dafür in der Geschichte Beispiele, und darauf gehe ich hier ein.
Demokratische Gemeinsamkeit statt Kollaboration
Da ist eine Geschichte aus dem Jahr 1952. Herbert Wehner wurde damals, im Oktober, von dem Bundeskanzler Konrad Adenauer ins Bonner Palais Schaumburg zu einem Gespräch einbestellt. Da ging es um die Verlässlichkeit der Sozialdemokratie als demokratische Partei. Adenauer hat die SPD ja häufiger mit den Kommunisten in einem Atemzug genannt oder verdächtigt, dem Bolschewismus Vorschub zu leisten. In diesem Gespräch hat Herbert Wehner dem Konrad Adenauer gesagt, dass er sich auf eine Sache verlassen könne, bei der Sozialdemokratie: Sie sei bei aller Opposition gehalten, eine Grenze nicht zu überschreiten, nämlich in keinem Falle dürfe die SPD zur „Kollaboration mit den Parteigebilden im sowjetischen Herrschaftsbereich bereit sein“[1]. Also eine staatsloyale Opposition, die niemals mit den Feinden der Demokratie zusammenarbeitet. Das war Wehners Maßstab, und daran hat er und hat seine Partei sich gehalten. Übrigens ohne, dass Adenauer ihnen das gedankt hat. Denn die Verdächtigungen insbesondere in Wahlkämpfen gegen Wehner und die Sozialdemokratie unter dem Motto, „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau“, gingen fleißig weiter.
Das war so, und sogar noch, nachdem Herbert Wehner am 30. Juni 1960 namens der Sozialdemokratie im Deutschen Bundestag ihre Treue zu den westlichen Bündnissen, zum atlantischen und zum europäischen Einheitswerk bekannt hat und dabei klar gemacht hat, dass die innenpolitische Verhetzung zwischen den demokratischen Parteien überwunden werden muss. In den Lebensfragen der deutschen Nation brauche es die Gemeinsamkeit der Demokraten. Herr Merz hielt ja offensichtlich die Migrationsfrage für so eine Lebensfrage. Sonst hätte er sie ja nicht Hals über Kopf auf eigene Faust im Bundestag einbringen müssen, sondern zunächst das Gespräch mit den demokratischen Fraktionen suchen können. Wehner wäre entsetzt gewesen, erstens über die Spaltung der politischen Mitte ausgerechnet an der Migrationsfrage und zweitens über die Bildung eines gemeinsamen rechten Lagers mit der AfD.
Auch zur Zeit der sozialliberalen Regierung, bezogen auf die Ostpolitik, galt für Herbert Wehner und die SPD, was er 1952 zu Adenauer sagte. Natürlich hat die Regierung Verträge gemacht mit undemokratisch regierten Staaten. Man musste ja etwas für die Menschen tun, die von der deutschen Teilung betroffen waren und für den Weltfrieden, und darum wurde verhandelt und wurden Verträge geschlossen. Genauso wie heute eine Regierung auch mit Machthabern oder Politikern verhandeln muss und reden muss, gar zu Abmachungen und Verträgen kommen muss, die demokratisch nicht verlässlich und demokratisch nicht zuverlässig sind. Ich nenne nur Namen wie Donald Trump in den USA oder Giorgia Meloni in Italien. Beziehungen zu den Staaten und zu deren Regierung sind notwendig, um der Menschen willen. Andererseits dann wiederum keine Beziehungen und keinen Vorschub leisten gegenüber dieser Art von politischen Kräften im eigenen Land.
Genau an der Stelle hat Friedrich Merz sich von einem Grundkonsens in der deutschen Demokratie verabschiedet. Kollaboration mit Feinden der Demokratie. Und das ausgerechnet in der Migrationspolitik.
Migrationspolitik braucht Menschlichkeit
Soweit erstmal zum Vorgehen. Nun noch zu den Inhalten dessen, was dort beschlossen wird. Natürlich ist nach dem schrecklichen Doppelmord von Aschaffenburg zu fragen, wie das künftig verhindert werden kann, wie die innere Sicherheit in unserem Land besser geschützt werden kann. Aber was ändert es, den Nachzug von Familien in unser Land zu verhindern, was ist da der Sicherheitsgewinn? Ich meine: Da ist keiner, zumal ja die Taten in der Regel von in unserem Land einsamen Männern ohne Familie ausgehen.
Dann gibt es noch die Zurückweisung illegal Eingereister an den Grenzen. Alles diskutabel, wer will schon Illegale? Aber da wird mir etwas mulmig, wenn ich an die Wehners denke. Die waren selbst Geflüchtete. Herbert Wehner ist 1941 illegal in Schweden eingereist. Nach seiner Haft wurde die Ausweisung über ihn verhängt, er war ausreisepflichtig. Und auch Lotte ist mit ihren Kindern aus Nazideutschland geflüchtet, unter Vorspiegelung einer Ferienreise.[2] Zum Glück wurde 1944 nach seiner Haftentlassung der Ausweisungsbeschluss gegenüber Herbert Wehner nicht vollstreckt. Es gab zwei Varianten: Entweder ins Nazireich oder in den sowjetischen Machtbereich, aus dem er eingereist war. Beide Varianten hätten tödlich geendet. Die Nazis in Deutschland hätten ihn umgebracht, weil er Kommunist war, und die Kommunisten in der Sowjetunion hätten ihn umgebracht, weil er ihnen als Verräter galt. Ein Rechtsstaat wie Schweden hat ihn nicht abgeschoben, und damit war sein Leben gerettet.
Was hätte Herbert Wehner also heute gesagt: Das eine ist, Friedrich Merz und CDU/CSU arbeitet mit Parteigebilden wie der AfD zusammen gegen demokratische Parteien, um sich gegenüber ihnen Vorteile zu verschaffen im Wahlkampf gegen andere Demokraten. Damit leistet er den Antidemokraten Vorschub. Auf der anderen Seite, die Politik, die hier ins Werk gesetzt wird, ist menschenfeindlich und letztlich eine de facto Aushebelung des Grundrechts auf Asyl. Genau das hätten die Wehners nicht mitgemacht.
Natürlich war Herbert Wehner immer für kontrollierte Zuwanderung, für legale Wege nach Deutschland zu kommen, dafür Menschen zwar Asyl zu gewähren, aber die Aufnahmemöglichkeiten des eigenen Landes zu betrachten und zu beachten. Allerdings gibt es bei ihm ein weiteres Muster. Das hat er in den 1970er Jahren praktiziert, als es um den Umgang mit Radikalen ging, etwa um Berufsverbote im öffentlichen Dienst. Er hat sich immer dafür eingesetzt, das nicht pauschal zu regeln, er hat gesagt, wir müssen den Einzelfall prüfen. Denn es geht immer um individuelle Schicksale.
Bündnisse nur mit zuverlässigen Demokraten
Was also bedeutet das aktuelle Geschehen für die Bundesrepublik Deutschland? Wir hatten einen Wahlkampf, in dem man die große Frage der Wirtschafts- und Sozialpolitik miteinander diskutieren wollte. Davon sind wir bis vor Aschaffenburg noch ausgegangen, dass das das Hauptthema wird. Die Auseinandersetzung darüber wäre spannend geworden. Vielleicht würde dann die CDU/CSU die Wahl gewonnen haben, und dann versehen mit dem Auftrag, eine andere Wirtschafts- und Sozialpolitik als die, welche die SPD oder die Grünen vertreten, ins Werk zu setzen. Das mag sein. Aber inzwischen ist diese Wahl zu einer ganz anderen Abstimmung geworden, durch die Finten des Herrn Merz, nämlich zu einer Abstimmung nicht nur über den Kurs in der Migrationspolitik, sondern vor allem über das Verhältnis demokratischer Parteien zu den Feinden der Demokratie.
Wenn also nach der Wahl an einer Regierungsbeteiligung von CDU/CSU kein Weg vorbeigeht, dann wird über dieses Thema noch einmal zu diskutieren sein. Ein GroKo-Business as usual verbietet sich. Thema sein die Frage, ob Leute, die den demokratischen Grundkonsens, nicht mit den Feinden der Demokratie zusammenzuarbeiten, so eklatant verletzen, koalitionsfähig sind, ob man mit denen überhaupt zusammenarbeiten kann.
Es stellt sich also die Frage der Regierungsfähigkeit der CDU/CSU. Auf den 29. ist ja nun kein 31. Januar gefolgt. Der (spätestens im Bundesrat) ohnehin chancenlose Gesetzesentwurf der Union ist knapp durchgefallen. Bevor danach zu irgendeiner Gemeinsamkeit übergegangen wird, muss auf den 29. Januar so etwas wie ein 30. Juni der CDU/CSU folgen, nämlich ein klares Bekenntnis zur Gemeinsamkeit der Demokratinnen und Demokraten – eine Loyalitätserklärung der Union, in keiner Weise mit den Feinden der Demokratie im Innern zusammenzuarbeiten. Also dass so etwas wie Merz es im Bundestag gemacht hat, nie wieder vorkommt. Jedenfalls nicht, wenn die Sozialdemokratie irgendwo dabei ist.
Die Mitläufer und Umfaller der CDU
Noch ein oder zwei Anmerkungen zu kleineren Parteien, die sich am 29. Januar der Merz’schen Politik angeschlossen haben im Bundestag. (Die Hoffnung ist ja, dass die Wählerinnen und Wähler es ihnen mit massenhafter Abwanderung danken.)
Da ist zunächst mal die schwindende FDP zu nennen, die ihre Existenzberechtigung als eigenständige politische Kraft jetzt offenkundig verloren hat. Denn sie ist ein Ableger der CDU geworden, geht den fatalen Weg des Herrn Merz mit. Und das, was noch geblieben ist an liberalen Grundsätzen und an Menschenrechtsansätzen, hat sie gleich mit über Bord geschmissen. Anpassung bis zur Unkenntlichkeit. Ich denke hier an Herbert Wehners Wort aus den 1960er Jahren von der unzuverlässigen Pendlerpartei. Die FDP schafft sich gerade ab.
Ja, und dann ist da das Bündnis Sarah Wagenknecht. Das ist eine Personenkultpartei neuen Typus. Die Kaderpartei der ehemaligen Leiterin der kommunistischen Plattform der PDS-Linkspartei. Die decken den russischen Diktator, den russischen Faschismus gegen den Freiheitskampf der Ukraine. Und ich finde es auch in der Migrationspolitik nicht statthaft, mit den Rechten von der AfD und der CDU gemeinsame Sache zu machen. Wo bleibt denn da die Solidarität mit Geflüchteten? Wo bleibt denn da die internationale Solidarität? Ich erinnere mich an den Ausspruch von Kurt Schumacher, nach 1945, der damals die Kommunisten als rot lackierte Doppelausgaben der Faschisten bezeichnet hat. Ein wenig passt das zum BSW. Ob sie damit ins Parlament kommen? Auf jeden Fall ist diese Gruppierung offensichtlich nicht demokratisch regierungsfähig. Jedenfalls nicht auf der Bundesebene.
Der Schweinehund des Herrn Merz
Es folgt also mein persönliches Fazit zum Thema Migrationspolitik und zu dem, was CDU und CSU, AfD, BSW und FDP jetzt gemacht haben. Herbert Wehner hat ja häufiger Kurt Schumacher zitiert. Damit möchte ich jetzt schließen, denn der stand für Klartext, er hat das ja mit über 10 Jahren Konzentrationslager bezahlen müssen. Eine der klaren Äußerungen von Schumacher als Reichstagsabgeordneter noch vor der NS-Machtergreifung war der Satz, dass die ganze nationalsozialistische Agitation nichts anderes ist als ein einziger Appell an den inneren Schweinehund im Menschen. Einen nicht ganz kleinen Schweinehund hat jetzt der Herr Merz rausgelassen. Das wird, und das muss Folgen haben.
[1] Zit. nach und vgl. Meyer, Christoph (2006): Herbert Wehner. Biographie. 4. Aufl. München: dtv, S. 169.
[2] Vgl. dazu jetzt Meyer, Christoph (2024): Greta Wehner. Eine Frau tritt aus dem Schatten. München: LMV, insbes. S. 54ff.