Leserbrief in der „Zeit“ – hier komplett
Zu einem Artikel in der „Zeit“ vom 7. September 2017 über deutsche Kanzler hat Christoph Meyer, Vorsitzender der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung, einen Leserbrief verfasst. Dieser wurde in der „Zeit“ vom 21. September – gekürzt – abgedruckt. Im folgenden die ungekürzte Fassung – Auslassungen durch die Redaktion der „Zeit“ sind fett und kursiv gesetzt:
In seinem Essay „Begreife dass ich Macht will“ über Willy Brandt schreibt Hans-Joachim Noack, dass Herbert Wehner den Kanzler 1973 in Moskau als „abgeschlafft“ und „entrückt“ „denunziert“ habe. Was soll diese Wortwahl? Ist – auch öffentlich geäußerte – Kritik gleich Denunziation? Wenn dieser Begriff für jenen Vorgang angemessen ist, dann ist die deutsche Politik insgesamt ein Saustall von Denunzianten und Verrätern.
Nun glaube ich nicht, dass Noack das so sieht. Nein, er meint, ganz persönlich, Herbert Wehner. Dahinter steht ein Bild, das Stereotyp oder moderner gesagt das Frame von Wehner als notorischer Verräter. Einmal Denunziant, immer Denunziant. Einmal Kommunist, immer Kommunist. „Wer einmal in seinem Leben Kommunist war, den verfolgt Ihre gesittete Gesellschaft bis an sein Lebensende…“ (Wehner, 1975).
Ob Wehner 1937 in Moskau wirklich „denunziert“ hat, ist strittig. Aufgrund der Quellenlage ist es zu bezweifeln. Und im Zweifel gilt…
Eine Brücke von Wehners Verhalten 1937 zu seiner Kritik an Brandt 1973 zu schlagen ist jedenfalls sachfremd. Zu fragen ist: Worum ging es Wehner mit seiner Kritik? Alle seriösen Quellen belegen: Der Fraktionsvorsitzende wollte den ersten sozialdemokratischen Kanzler nicht stürzen, sondern dessen Ostpolitik stärken, sie wieder flottmachen. Es gebe keinen besseren Kanzler als Brandt, sagte Wehner seinen Moskauer Gesprächspartnern.
Am Ende, nach Moskau, schwenkte Brandt auf Wehners Linie bei der Handhabung der deutsch-deutschen Beziehungen ein, zum Wohle der Menschen im geteilten Deutschland. Den Kanzler Brandt aus seiner wohl auch psychisch bedingten partiellen Lethargie zu reißen, das vermochte Wehner nicht. Insofern darf natürlich gefragt werden, ob die politisch gerechtfertigte Kritik Wehners am Regierungsstil des Chefs psychologisch klug war und ob sie am Ende ihr Ziel, den Kanzler wieder flott zu machen, nicht doch verfehlte.