Mit Herz und Verstand dabei
Am 31. Oktober wird Greta Wehner 90 Jahre alt. Anlässlich dieses Jubiläums schreibt Christoph Meyer für die „Wehnerpost“:
„Wie geht es eigentlich Greta?“ – „Was macht denn Greta Wehner?“ – diese Fragen werden immer wieder gestellt, von Freundeskreismitgliedern und auch von anderen. Nun, Greta Wehner wird am 31. Oktober dieses Jahres 90 Jahre alt, und sie hat sich in letzter Zeit rar gemacht. Christoph Meyer, Vorsitzender der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung, schreibt aus diesem Anlass:
„Seit einigen Jahren schon müssen die Mitglieder des Freundeskreises auf ihren jährlichen Treffen zum Geburtstag von Herbert Wehner auf die Anwesenheit von Greta verzichten. Der Grund ist ganz einfach: Greta Wehners Alter und die damit einhergehenden gesundheitlichen Einschränkungen führen dazu, dass sie kaum mehr ihre Wohnung verlässt. Sie reist nicht mehr und nimmt an keinen Veranstaltungen mehr teil, auch nicht innerhalb von Dresden. Besuche empfangen, Termine mit Journalisten und Forschern, Interviews und Zeitzeugengespräche – das alles geht nicht mehr.
Gleichwohl – Greta ist uns verbunden; sie übermittelt dem Freundeskreis jedes Jahr ihre herzlichen Grüße, und sie verfolgt wachen Blickes, mit Interesse und klarem Urteil das politische Geschehen. Erst letzte Woche ließ sie uns wissen, wie sehr sie die Bilder von Flüchtlingen, die Rettung und ein besseres Leben in Deutschland suchen, an ihre eigene Kindheit und Jugend erinnern. Damals, 1937, musste ihre Mutter Lotte mit Greta und deren Bruder Peter Deutschland verlassen, weil ihr eine erneute Verhaftung durch die Nazis drohte – und diese hätte sie kaum überlebt, „d.h. Peter und ich wären Vollwaisen geworden“. Sie fanden Aufnahme – und Arbeitsmöglichkeiten – in Schweden, dem Land, in welchem sie schließlich 1944 Herbert Wehner kennen lernten und in ihre Familie aufnahmen. Die heutige Fluchtbewegung hin zu uns sieht Greta dagegen eher als „Völkerwanderung“. Sie meint, es geht vor allem darum, das Wohnungsproblem zu lösen, wobei eine „kompakte Unterbringung“ auf Dauer nur zur Isolierung führt, wo es doch um Eingliederung geht, „gerade weil die Veränderungen im Herkunftsland nicht so schnell gehen werden“.
Greta Wehner lebt immer noch in ihrer Wohnung, und sie ist nicht allein. Sie hat Freunde, die sich um sie kümmern – und helfen, dass sie, solange das noch geht, selbstbestimmt bei sich zu Hause leben kann. Greta hat sich zeitlebens viel um andere gekümmert, manchmal bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. In Schweden war sie unter anderem Säuglingsschwester. Nach dem Krieg, in Deutschland, wurde sie zunächst Sozialfürsorgerin, ehe Herbert Wehner sie 1953 um Hilfe bat. Sie gab ihren Beruf auf, um sich in Bonn ganz um ihn und ihre kranke Mutter zu kümmern. Dabei blieb es jedoch nicht: Sie machte ihren Führerschein und begann immer mehr, nicht nur den häuslichen, sondern auch den politischen Alltag von Herbert Wehner zu organisieren. Sie führte die Terminkalender, organisierte die Büros, schrieb Briefe und hielt Telefonate. Hilfesuchenden stand sie mit Rat und Tat zur Seite, egal ob in Bonn, im Hamburger Wahlkreis oder im Fall von Familienzusammenführungen aus der DDR. Ihre Hilfe war nie formal, sondern immer persönlich. Am Ende „einer langen gemeinsamen Strecke“, die er ohne Greta gar nicht hätte schaffen können, hat Herbert sie geheiratet. Das war 1983, im Jahr seines Ausscheidens aus der Politik. Für beide war dies eine Bestätigung. Es folgten – bis zu Herberts Tod 1990 – Jahre der Pflege.
Dann kam die deutsche Einheit, und Greta merkte: Im Osten sind Leute, die brauchen meinen Rat, die wollen meine Stimme hören. Sie begann immer öfter zu reisen und auch öffentlich aufzutreten. Sie berichtete über ihre Jahre in der Politik – und über ihr Mit-Erleben der Demenz. Greta machte den Menschen Mut. 1996 dann der entscheidende Schritt: Greta zog um, von Bonn nach Dresden. Mit 71 Jahren, sie hatte vorher nie im Osten gewohnt. Sie sagte: Herbert hätte das auch getan, um zu helfen. Und sie selbst hatte auch schon Freunde hier, in seiner Heimatstadt gefunden. So leistete sie entscheidende Aufbauhilfe für das Herbert-Wehner-Bildungswerk. Nachzulesen ist das alles in ihrem Buch „Aus einem Leben mitten in der Politik“; beim Bildungswerk ist es erhältlich.
Persönlich habe ich Greta Wehner 1998 kennen gelernt, als ich nach Dresden gekommen bin und Leiter des Herbert-Wehner-Bildungswerks wurde. Gleich wurde es ein freundschaftliches Verhältnis. Für mich und meine Frau Margarete bedeutet Greta seither ein Stück Zuhause, Zugehörigkeitsgefühl, Wärme. Sie hat mich bedingungslos unterstützt, als ich die Biographie „Herbert Wehner“ geschrieben habe. Die Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung haben wir gemeinsam ins Leben gerufen. Ohne Greta gäbe es das Bildungswerk nicht – und wer weiß, ob wir überhaupt hier geblieben wären. Jetzt aber ist klar: In Sachsen das Erbe von Herbert Wehner wahren und es nutzbar machen, das ist eine Aufgabe die bleibt, und um die zu kämpfen sich lohnt – auch wegen und gerade dank Greta Wehner.
Greta Wehner hat es – nach 90 Jahren – verdient, dass sie nicht mehr Verantwortung tragen muss, dass andere dies jetzt tun. Darum hat sie gebeten, und das ist zu respektieren. Wahrscheinlich wird sie zahlreiche Gratulationsbriefe zu ihrem Geburtstag bekommen. Sie wird sie sicher alle lesen und sich über viele auch freuen. Aber es mögen alle Gratulanten Verständnis dafür haben, wenn sie die Post nicht mehr beantworten kann. Denn an diesem Punkt ist es so wie es bei Herbert auch war: Einen Ghostwriter beschäftigt Greta Wehner nicht.“