Begründer der parlamentarischen Demokratie
Zum 35. Todestag von Herbert Wehner – sieben Zugänge – Rede von Peter Struck
Vor 35 Jahren, am 19. Januar 1990, starb, im Alter von 83 Jahren, in Bonn-Bad Godesberg Herbert Wehner. Wie der Beirat der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung an seinem 100. Geburtstag am 11. Juli 1906 erklärt hat, gehört Herbert Wehner „zu den Begründern der parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik“. „Ihm ist es wesentlich zu verdanken“, so heißt es weiter, „dass Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie einen mit tragenden und mit entscheidenden Anteil am Staats- und Gemeinwesen gewonnen haben. Er hat sich für Versöhnung und Völkerverständigung, für sozialen Ausgleich und Mitbestimmung stark gemacht.“ Herbert Wehner setzte „sein politisches Gewicht dafür ein, Menschen zu helfen, besonders denjenigen, die unter den Folgen der Diktaturen in Deutschland zu leiden hatten. Sein Ziel war und blieb die deutsche Einheit.“
Sieben Quellen als Zugang
Wer die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, ja die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert insgesamt verstehen und dieses Verständnis für die Gegenwart und Zukunft nutzen will, dem oder der raten wir dringend, das Leben und Wirken Herbert Wehners näher zu studieren. Wie es darum steht, das hat Stiftungsvorstand Christoph Meyer schon vor einem Jahr, zum 34. Todestag Herbert Wehners, fulminant herausgearbeitet. Neben den zahlreichen Beiträgen hier auf dieser Homepage gibt es viele Quellen, die dazu von Nutzen sind. Hier legen wir den Zugang zu sieben der schönsten und wichtigsten:
- Das Neueste – und zum Verständnis des (Zusammen-)Lebens der Wehners eine anrühgende, informative und spannende Geschichte, ist die unlängst erschienene Biografie „Greta Wehner. Eine Frau tritt aus dem Schatten“ von Christoph Meyer. Näheres dazu hier.
- Grundlegend, immer noch aktuell, umfassend und lesbar ist die bisher einzige aus den Quellen gearbeitete Gesamtbiographie „Herbert Wehner“, ebenfalls von Christoph Meyer. Zu beziehen bei der Stiftung, Näheres hier.
- Zeitlebens ist Herbert Wehner immer wieder verleumdet und als angeblicher Bösewicht diffamiert worden. Dem ist Christoph Meyer im Jahr 2018 im Rahmen einer Ringvorlesung an der Hochschule Mittweida auf den Grund gegangen. Die Videoaufnahme des spannenden Vortrags mit Bildern und Originaltönen gibt es hier.
- Über Herbert Wehner tauschten sich im Jahr 1997 sein Vorgänger Helmut Schmidt sowie sein Nachfolger Hans-Jochen Vogel in einem Podiumsgespräch des Freundeskreises Herbert-Wehner-Bildungswerk in Dresden aus. Das Zeitdokument gibt es ebenfalls als Video – auf Youtube, auf dem Kanal der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung, zu finden hier.
- Ebenfalls auf diesem Kanal hat die Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung das große innen- wie außenpolitische Meisterwerk Herbert Wehners dokumentiert. Die Rede vom 30. Juni 1960 gibt es gleichzeitig als Original-Tonaufnahme, synchronisiert mit dem handschriftlichen Originalmanuskript und dem offiziellen Protokolltext. Das einzigartige Zeitdokument findet sich hier.
- Das Wirken Herbert Wehners als Fraktionsvorsitzender im Bundestag schildert Christoph Meyer knapp in einem Aufsatz, der in einem lesenswerten Sammelband zur Geschichte der SPD-Bundestagsfraktion erschienen ist. Zum Buch geht es hier.
- Zu Herbert Wehners Tod veranstaltete die Bundesrepublik Deutschland einen Staatsakt. Die Reden sowie die Traueransprache des Godesberger Pfarrers Christian Werner zur Beisetzung am 23.1.1990 finden sich im Archiv der Stiftung, z.B. hier: HGWST-PB71-004. Vor 25 Jahren kam der unvergessene Peter Struck, damals Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, nach Dresden, um Herbert Wehner im Rahmen einer großen Gedenkveranstaltung des Herbert-Wehner-Bildungswerks und des Freundeskreises im Volkshaus zu ehren. Seine Rede ist ein spannendes Zeitdokument und gleichzeitig hoch aktuell. Wir dokumentieren sie hier noch einmal im Wortlaut:
Rede von Peter Struck am 19. Januar 2000 in Dresden
Liebe Greta, liebe Genossinnen und Genossen, ich freue mich sehr, und es ist mir eine noch größere Ehre, heute hier reden zu dürfen. Vor zehn Jahren ist Herbert Wehner gestorben. Die Mauer war gerade gefallen, die Einheit stand bevor. Der Lebenstraum dieses großen Sozialdemokraten war in Erfüllung gegangen. Er hat die Erfüllung zwar noch erlebt, aber nicht mehr wahrgenommen.
Liebe Freundinnen und Freunde, wenn wir heute hier in Dresden, in Herberts Heimat, seines Todestages gedenken können, dann sollten wir zunächst und vor allem daran denken, dass nicht zuletzt Herberts unermüdliches Kämpfen für menschliche Annäherung Voraussetzungen für die friedliche Revolution im Herbst 1989 mit geschaffen hat. Herbert Wehner war ein leidenschaftlicher gesamtdeutscher Patriot. Wer die Nachfolge Herbert Wehners als Vorsitzender der SPD- Bundestagsfraktion antritt, lernt täglich neu die Größe der Aufgaben zu schätzen, die Herbert Wehner 13 Jahre mit Erfolg und Bravour gemeistert hat.
Der Kern seiner Leistung
Was ist der Kern seiner Leistung, was hat ihn zu einem wahrhaft großen Politiker der demokratischen Linken in diesem Jahrhundert gemacht? Helmut Schmidt, sein Vorgänger als Vorsitzender der Bundestagsfraktion, hat diese Leistungen einmal in einem Interview auf drei Hauptpunkte gebracht:
- „Es ist Wehners Verdienst, die SPD nach dem Krieg immer wieder aufmerksam gemacht zu haben auf die schwerwiegenden Gefährdungen der Menschlichkeit, die im kommunistischen Herrschaftssystem beschlossen sind.
- Er hat immer aufgepasst, dass die Traditionen der alten Arbeiterbewegung, dass die Geschichtsmacht dieser Traditionen nicht intellektuell überwuchert oder untergebuttert werden konnten.
- Er hat wesentlichen Anteil daran, dass unsere Partei in der Bundesrepublik Deutschland regierungsfähig geworden ist.”
So weit Helmut Schmidt. Jede dieser Leistungen verdient der Würdigung. Jede dieser Leistungen beweist, welch große politische Kraft Herbert Wehner verkörpert hat. Ich möchte aber hier vor allem das in den Mittelpunkt stellen, was Hans-Jochen Vogel, sein Nachfolger als Fraktionsvorsitzender, bei der Trauerfeier im Januar 1990 so ausgedrückt hat: „Sein Engagement und seine Liebe galten nicht abstrakten Ideen und auch nicht der Macht als solcher, obwohl er sich der politischen Bedeutung der Macht stets bewusst war und zu ihr ein realistisches Verhältnis hatte. Sein Engagement und seine Liebe galten vielmehr seinem Volk, galten den Menschen insgesamt und den Menschen zumal, aus deren Mitte er, der Dresdener Schuhmachersohn hervorgegangen war. Denen, die damals mühsam genug von ihrer Hände Arbeit lebten und deren Not und Rechtlosigkeit empörte ihn. Ihnen wollte er zu ihrem Recht und zu einem menschenwürdigen Dasein verhelfen”. Das war für ihn der Antrieb, das war die Triebfeder, die sein Tun bestimmt hat. Den einfachen Menschen, den Arbeitnehmern hat er sich Zeit Lebens nah und verbunden gefühlt. Deswegen war die AfA, die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, sein Kind und sein Zuhause.
Das Wesen der Politik
Herbert Wehner hat das Wesen der Politik auf eine furchtbar einfache, aber furchtbar wichtige Banalität reduziert. Heute reden wir gern und oft davon, dass Politik ein Projekt braucht, dass Politik einer Vision bedarf. Wir verschanzen uns dabei oft hinter Worten. Worauf es ankommt, was wirklich dringlich ist, hat Herbert ganz schlicht so ausgedrückt: „Das Entscheidende ist, den Menschen zu helfen”. Den Menschen helfen, das war es, was den jungen Herbert Wehner in die Politik getrieben hat. Er haderte mit denen, wie er einmal gesagt hat, die in den Kirchen und Parteien die „Bergpredigt auslegten”. Deswegen engagierte sich der Christ Wehner nach eigenen Worten „ganz links”. Dieser Ansatz Herbert Wehners ist scheinbar so banal, so einleuchtend, dass er allzu oft vergessen wird.
Den Menschen helfen, das muss der unumstößliche Sinn von Politik sein. Wir alle, die wir in Verantwortung stehen – an welcher Stelle auch immer – müssen uns dessen immer wieder bewusst sein. Herbert Wehner hat diesen Satz immer wieder variiert. Helfen, dieses Wort hat er unvoreingenommener in den Mund genommen, als wir es heute tun. Helfen und Dienen, so hat Wehner seine Aufgaben verstanden.
Zum 75. Geburtstag von Greta habe ich im Oktober darauf hingewiesen, dass die Generation Gretas und Hans-Jochen Vogels, erst recht aber die Generation Herbert Wehners, Dienen und Helfen als etwas durchaus Erhabenes verstanden hat. Heute ist das gerade in der Politik aus der Mode gekommen. Ich kann da nur den Rat geben: Jeder Politiker sollte Minister sein, auch wenn er kein Amt dafür hat. Denn Minister sein, heißt Diener sein. Eine Entwicklung, in der sich die Einzelperson überhöht, nur noch ihre Interessen sieht, ist gefährlich. Mit einer solchen Entwicklung droht das Gemeininteresse aus dem Blick zu geraten. Wenn Politik nicht mehr dienen will, darf sie sich nicht wundern, dass sie sich von der Gesellschaft entfernt. 16 Jahre Kohl haben diese Fehlentwicklung gefördert. Unter ihm sind die Kleinen und Schwachen zu kurz gekommen. Unter ihm ist der Blick für das Ganze zu kurz gekommen, weil er Interessen bedient hat, um Macht zu erhalten. Gerade die Enthüllungen der letzten Wochen legen den Verdacht nahe, dass diese Politik nicht für die Menschen da war, sondern vor allem dem Machterhalt gedient hat. Die „patentierten Christen”, wie Herbert die Christdemokraten oft polemisch genannt hat, haben Politik zur bloßen Machterhaltung degeneriert. Nicht den Menschen zu helfen, sondern die Macht zu erhalten, war ihr Verständnis von Politik. Natürlich geht es immer auch um Macht, aber niemals darf es gehen um Macht um jeden Preis. Erst recht nicht dann, wenn dabei Regeln und Gesetze verletzt werden. Von der Beschädigung der Moral ganz zu schweigen.
Der Preis der Macht
„Er wollte die Macht, aber nicht um jeden Preis”, hieß vor zehn Jahren die Überschrift über einem Gedenkartikel für Herbert Wehner. Ich befürchte inzwischen, eine Würdigung Helmut Kohls müsste die Überschrift tragen: „Er wollte die Macht um jeden Preis”.
Den Menschen helfen, das heißt auch, dass man ihnen die jeweils eigene Politik erklärt, dass man nicht über sie hinweg redet, sondern mit ihnen redet. Herbert hatte eine eindeutige Sprache. Er hat nicht herumgeredet. Immer hat er auf den Punkt geredet. Mal heftig, mal leise, aber immer auf den Punkt. Den politischen Gegner hat er als solchen behandelt, aber nie als Feind. Kaum jemand hat die menschlichen Kontakte in der Politik auch über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg so sehr gepflegt wie „Onkel Herbert”.
Und im Übrigen kenne ich niemand – außer Hans-Jochen Vogel -, der die Anliegen der einzelnen Menschen, der Petenten, wie es im Amtsdeutsch heißt, so ernst genommen hat wie Herbert Wehner. Wenn sich die Menschen erst ein Lexikon zur Hand holen müssen, um zu verstehen, was ihnen gerade erklärt werden soll, dann kann etwas nicht mehr stimmen am Grundsatz, den Menschen helfen zu wollen.
Wir haben die Pflicht, die Bürgerinnen und Bürger in unseren Worten mitzunehmen. Wir dürfen nicht immer nur zur Sache reden, wir müssen vor allem zu den Menschen reden. Wir müssen sie darauf vorbereiten, welche Probleme zu lösen sind. Bisweilen war es im vergangenen Jahr unser Problem, dass wir Lösungen angeboten haben für Probleme, die die Menschen noch gar nicht als Problem empfunden hatten.
Konkrete Hilfe für Menschen
Den Menschen helfen. Das war für Herbert Wehner immer ein Anliegen, das nicht jenseits des Eisernen Vorhangs endete. Er war ein zutiefst gesamtdeutscher Politiker. Für ihn war es bedrückend, dass sowjetische Panzer 1953 den Aufstand der Arbeiter brutal unterdrückten. Damals schon war ihm klar, dass es von Bonn aus aller Kraft bedürfe, um das Leben in Ostdeutschland erträglich zu machen. Es waren keine ideologischen Hinweise, die er gab. Es waren praktische Hilfen, die er forderte.
Der Berliner Publizist Peter Bender hat dieses Engagement Wehners wie folgt beschrieben: „Wehner hat die menschlichen Erleichterungen nicht, wie die meisten, erst zu Beginn der sechziger Jahre als zentrales Thema entdeckt. Er hielt sie immer für einen untrennbaren Teil der Wiedervereinigungspolitik – oder vielmehr für deren Hauptzweck”. Erleichterungen für die Menschen in der DDR zu schaffen, das war es, was ihn umgetrieben hat. Es war eine stille Arbeit. Nie hat er seinen Einsatz an die große Glocke gehängt.
Herbert Wehner, der Worte wie Felsbrocken lostreten konnte – so hat es Henning Voscherau einmal formuliert -, Herbert wusste, dass es hier um Taten und nicht um große Worte gehen musste. Niemand außer Greta wird uns heute noch verlässlich Auskunft geben können, wie sehr er sich hier in die Pflicht nehmen ließ.
Zur Leistung Greta Wehners
Liebe Greta, erlaube mir, an dieser Stelle wenigstens ein paar Worte zu Dir zu sagen. Wir haben vor wenigen Wochen hier Deinen 75. Geburtstag gefeiert. Damals haben wir alle hervorgehoben, in welch hervorragender Weise Du die Arbeit Herberts unterstützt, ja in diesem Umfang, dieser Intensität erst möglich gemacht hast. Das möchte ich heute ausdrücklich wiederholen. Du bist ein Teil von Herbert. Dir verdanken wir vieles.
Ich möchte heute nicht all das wiederholen, was ich im Oktober gesagt habe. Aber eines, was ich damals nicht gesagt habe, möchte ich heute doch erwähnen. Wir verdanken Dir, Deinen Erzählungen etwas, was den Menschen Herbert auch ausgemacht hat: Seine unendlich große Liebe zu seiner Heimat Sachsen. Ich erinnere mich an eine Geschichte von Dir, die ich in Vorbereitung Deines Geburtstages gelesen habe. Da beschreibst Du eine Deiner ersten Reisen nach Herbert Wehners Tod nach Sachsen. Die meisten Orte besuchtest Du zum ersten Mal. Und doch waren sie Dir nicht fremd. Du kanntest sie, Du konntest sie wieder erkennen, weil Herbert sie Dir aus seiner Erinnerung bis ins Detail beschrieben hatte. Er liebte seine Heimat. Nicht nur das, sie war für ihn so präsent wie zu seiner Jugendzeit. Denn seither hatte er sie nicht wiedersehen dürfen.
Die Autorität des Lebens
Liebe Freundinnen und Freunde, lassen Sie mich noch einmal Hans-Jochen Vogel zitieren. Er hat 1981 einen Artikel zum 75. Geburtstag Herberts überschrieben: „Herbert Wehner oder die Autorität des Lebens”. Ja, diese Autorität müssen wir uns stets vergegenwärtigen. Wir alle, die wir heute Verantwortung tragen, können eine solche Autorität nicht mehr in die Waagschale bringen. Geboren im Kaiserreich, den Gegnern der ersten deutschen Republik in Weimar getrotzt, die Hitlerei – so Willy Brandt- aktiv bekämpft. Widerstand, Hotel Lux, die stalinistischen Säuberungen überlebt. Diese erste grausame Hälfte des Jahrhunderts hat Narben hinterlassen, die das Leben eines Herbert Wehner gezeichnet haben. Aber die Erfahrungen dieser Jahrhunderthälfte haben dem Leben Herbert Wehners eine Autorität gegeben, über die wir, die Nachgeborenen, niemals verfügen können. Mit dieser Autorität hat Herbert 13 Jahre den sozialdemokratischen Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt den Rücken als Fraktionsvorsitzender freigehalten.
Welche Kraft dazu erforderlich war, ahne ich, nachdem ich gerade mal gute 13 Monate die Fraktion auf Regierungskurs zu halten hatte. In den Medien hat man mir während dieser Monate oft das große Vorbild Herbert Wehner vorgehalten. Natürlich macht es stolz, mit diesem großen Mann der Sozialdemokratie in Verbindung gebracht zu werden. Aber es ist auch – sowohl für den einen wie für den anderen – zutiefst ungerecht. Mir und meiner Generation insgesamt fehlt diese von Hans-Jochen Vogel zitierte „Autorität des Lebens”, um als „Zuchtmeister” den Laden zusammenhalten zu können.
Regieren ist schwierig
Ein Herbert Wehner ist nicht zu kopieren. Und jeder, der dies versuchen sollte, muss elend scheitern. Richtig aber ist, dass es auch heute einer großen Kraftanstrengung bedarf, um eine so große SPD-Fraktion regierungsfähig zu machen und zu halten. Im ersten Überschwang des Wahlgewinns haben wir im Dezember 1998 zu einem Fraktionsfest geladen unter dem Motto: „Regieren macht Spaß”. Wir wissen jetzt, dass sich der Spaß in Grenzen halten kann.
Wir wissen, dass richtig ist, was uns Greta Wehner vorgehalten hat, als sie in der letzten Woche bei der Vorstellung einer Sonderbriefmarke für Herbert Wehner mahnte: „Regieren ist ungleich schwerer als Opposition”. Regieren, daran hat sich seit Herberts Zeiten nichts geändert, bedarf der kleinen Schritte. Nicht das Wünschbare, sondern das Machbare bestimmt den Alltag einer Regierungsfraktion.
Es gilt der Satz, den Herbert Wehner aus der Antrittsrede Gustav Heinemanns 1969 immer wieder zitiert hat: „Das Geheimnis auch der großen und umwälzenden Aktionen besteht darin, den einen Schritt herauszufinden, der zugleich ein strategischer Schritt ist, indem er weitere Schritte in Richtung einer verbesserten Wirklichkeit nach sich zieht. Darum hilft es nicht, das Unvollkommene zu höhnen oder das Absolute als Tagesprogramm zu predigen. Lasst uns stattdessen durch Kritik und Mitarbeit die Verhältnisse Schritt für Schritt ändern”. Dies haben wir nach 16 Jahren Opposition erst mühsam lernen müssen. Viele von uns hatten die großen Würfe im Kopf, wo nur kleine Schritte möglich waren. Ich weiß, dass diese Erkenntnis für viele schmerzhaft ist. Doch umso mehr müssen wir uns mühen um die vielen kleinen Schritte, die nötig sind, um unsere Regierungsarbeit zu einer langen Reise verbesserter Verhältnisse zu machen.
Die Mauer muss weg
Liebe Freundinnen und Freunde, im Todesjahr Herberts vor zehn Jahren waren wir alle berührt durch die politische Entwicklung in Deutschland. Wir in den alten Ländern hatten sie freudig miterlebt, Ihr, hier in Dresden, oder in Leipzig, Berlin und in vielen anderen Städten hattet sie aktiv mit herbeigeführt. Der damaligen Freude ist im letzten Jahrzehnt mancherorts Ernüchterung gefolgt. Es wächst vielen vieles zu langsam zusammen. Die „Mauer in den Köpfen” ist zu einem Schlagwort geworden, das die Trennung zwischen Alt und Neu deutlich machen soll. Ich warne vor solchen Schlagworten. Sie können eine Eigendynamik entwickeln und Schaden anrichten. Wir alle müssen uns stattdessen bemühen, die Verhältnisse zu verbessern. Im Kleinen wie im Großen.
Vor allem müssen wir das tun, was Herbert immer im Umgang von Menschen gefordert hat: „Miteinander reden, aufeinander hören, füreinander Verständnis gewinnen und aufeinander zugehen”.