Wehners Volvo

Christoph Meyer, 1999

Der Karren will nicht mehr. Der große, blaßgelbe Wagen ist frisch überholt, gerade vor einer Woche durch den TÜV gekommen, anstandslos. Aber Herbert Wehners alter Volvo will nicht mehr. Bereits kurz nach der Abfahrt vom Flughafen ist der Motor ausgegangen. Nun, das ist im Gefälle gewesen. Zweiter Gang, Kupplung raus, behutsam wieder rein und Gas geben, da geht er wieder. Einen Kilometer weiter ist es dann endgültig aus. Königsbrücker Straße, die Ampel kurz vor der Schauburg schaltet auf Rot, der Volvo bleibt stehen, und nichts geht mehr. Den Schlüssel rumdrehen, mal viel, mal wenig Gas, mal mit, mal ohne Choke – er springt nicht wieder an.

Es ist der 31. Oktober 1999. Heute wird Greta Wehner 75, mein Beifahrer und ich sind zum Geburtstagsessen unterwegs und knapp mit der Zeit. Die Ampel zeigt Grün, der Wagen bleibt stehen. Am hellichten Sonntag, an einer belebten Kreuzung, mitten in Dresden. Meine Handflächen beginnen zu schwitzen, und in der Magengegend stellt sich ein beklemmendes Gefühl ein. „Das hat wohl keinen Sinn so“, stellt mein Beifahrer kategorisch fest. Es handelt sich nicht um irgendeinen Beifahrer. Es handelt sich um Hans-Jochen Vogel, den ehemaligen Bundesminister, Parteivorsitzenden und Nachfolger von Herbert Wehner als Vorsitzender der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion.

Ich habe mich so gefreut, bin eigentlich stolz, ihn mit dem historischen Fahrzeug durch Dresden fahren zu können. Und ein Fernsehteam, das in der Innenstadt auf uns wartet, hat sich auch gefreut. Damit ist jetzt Essig. „Bleib du am Steuer sitzen“, bestimmt der über Siebzigjährige, steigt aus, klemmt sich ans Heck und schiebt das schwere schwedische Gefährt schwungvoll über den hohen Bordstein auf den Bürgersteig. Es ist lange her, daß mir etwas so peinlich war. Immerhin: Mir wird keine Schuld gegeben, und das eilig herbeigerufene Taxi kommt auch bald und bringt uns wohlbehalten ans Altstadtufer.

Das Abschleppen und die Reparatur haben über 500 Mark gekostet, und es dauert ein paar Wochen, bis sich meine Abneigung gegen den Oldtimer gelegt hat. Mittlerweile läuft der Zweitdienstwagen des Herbert-Wehner-Bildungswerks wieder, tadellos und störungsfrei, auch in Hamburg und Chemnitz war ich schon damit, und der Volvo hat auf den Kopfsteinpflasterstraßen von Dresden unbestreitbare Vorteile: traumhafte Stoßdämpfer!

Einige Wochen nach Gretas Geburtstag war der zehnte Todestag von Herbert Wehner. Eine Briefmarke ist herausgekommen, und es war wieder eine Feierstunde. Ich habe mich dagegen entschieden, abergläubisch zu sein – und Hans-Jochen Vogel wieder mit dem Volvo vom Flughafen abgeholt. Diesmal wollte der Karren, und das Fernsehteam ist auch auf seine Kosten gekommen.

Lange zuvor war derselbe Volvo 240 GL schon einmal in Dresden gewesen. Das war 1986. Herbert Wehner war 80 Jahre alt, einige Jahre zuvor aus der aktiven Politik ausgeschieden und bereits von einer schweren Demenzerkrankung mit Gedächtnisstörung und Bewußtseinstrübung gezeichnet. Im Jahr davor hatte Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, Wehners langjähriger Verhandlungspartner beim Häftlingsfreikauf und bei der Familienzusammenführung, die Wehners in die DDR und nach Dresden geholt. Zum ersten Mal nach über 50 Jahren konnte Herbert Wehner seine geliebte Heimatstadt wiedersehen.

Witwe Greta erinnert sich, daß Herbert bei dem Besuch in lichten Momenten lebhaft bemerkte, wo er war, ob am „Filzteich“ in Schneeberg im Erzgebirge, wo er als kleiner Junge einige Jahre gelebt hatte, oder in der Spenerstraße in Dresden-Striesen, wo er geboren wurde und wo der Sohn eines Schuhmachers und einer Schneiderin die meisten Jahre seiner Jugend verbracht hatte. Als sie dort am Sportplatz der 20. Grundschule vorbeikamen, blitzte die Erinnerung auf: „Hier habe ich Fußball gespielt“, sagte Herbert Wehner unvermittelt. An dieser Stelle steht seit 1998 ein kleines Denkmal der Stadt, das an den wohl bedeutendsten Politiker erinnert, den Dresden im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat.

Nach der Machtergreifung durch die Nazis hatte Herbert Wehner seine sächsische Heimat verlassen müssen. 1935 konnte er noch einmal heimlich seine Eltern besuchen. Er hat sie nie wieder gesehen. Sein Vater starb 1937, und die Mutter erlag den Verletzungen, die sie 1945 beim Bombenangriff erlitt. Wehner ging in den Untergrund, in die Emigration, nach Moskau. Hier wurde er in die stalinistischen „Säuberungen“ verwickelt, ein Untersuchungsverfahren wurde gegen ihn eingeleitet; er hatte Mühe, sich zu retten. 1941 konnte er nach Schweden ausreisen, mit dem Auftrag, den kommunistischen Widerstand in Deutschland wieder aufzubauen. Ein Jahr später verhaftete ihn die Polizei, und er wurde zu mehreren Jahren Straflager verurteilt. Seine Gegner im Parteiapparat, darunter Walter Ulbricht, nutzten diese Wehrlosigkeit, um Wehner unter dem Vorwand des Verrats aus der KPD auszuschließen. Schon in den 30er Jahren hatte er begonnen, die Politik der kommunistischen Parteien kritisch zu betrachten. Nun dachte er weiter. Das schwedische Modell der freiheitlichen Demokratie und des Sozialstaats überzeugte ihn. Ihre Liebe zu Schweden haben Wehners sich zeitlebens bewahrt. Auch darum der Volvo.

Der Weg zurück nach Dresden war Herbert Wehner auch nach dem zweiten Weltkrieg versperrt. Er schloß sich dem demokratischen Zweig der Arbeiterbewegung an. Seine ehemaligen Genossen antworteten mit Entführungsversuchen und Brandanschlägen. Sie mißlangen. Die Zerstörung und Diskreditierung eines Großteils des Erbes der Arbeiterbewegung in Dresden, Sachsen, im gesamten Gebiet der DDR, dauerte fast sechzig Jahre, und sie hat sich bis heute als nachhaltig erwiesen.

Für die Menschen in seiner Heimat tat Wehner vom Westen aus, was er konnte. Ob als langjähriger Vorsitzender des Bundestagsausschusses für gesamtdeutsche Fragen, dann als Bundesminister oder als Fraktionsvorsitzender – immer war er bemüht, zu helfen, Erleichterungen zu schaffen, ja er kümmerte sich persönlich um Tausende von Einzelschicksalen. Als ich 1998 von Köln nach Dresden umgezogen bin, haben mir viele Leute erzählt, wie sie zu DDR-Zeiten an den Radios gehockt und gebannt und gespannt auf Signale der Hoffnung gelauscht haben, wenn Wehner im Deutschlandfunk sprach.

Im Sommer 1996, als sie auch schon recht betagt war, ist Greta Wehner von Bonn nach Dresden gezogen. „Wenn Herbert 1990 gesund gewesen wäre, ich bin sicher, dann wäre er in seine sächsische Heimat zurückgekehrt und hätte dort geholfen, das Land und die Demokratie aufzubauen“, meint Greta. Sie hilft jetzt mit, diese Ziele zu verwirklichen, so weit ihre Gesundheit es zuläßt. Im Herbert-Wehner-Bildungswerk und darüber hinaus ist sie eine unentbehrliche, unermüdliche und allseits geschätzte, ja geliebte Ratgeberin.

Wenige Monate vor Herbert Wehners Tod fiel die Berliner Mauer. Er hat dieses Ereignis nicht mehr bewußt miterleben können. Daß der Volvo jetzt durch die Straßen seiner Heimatstadt fährt, daß Greta hier lebt, daß das Bildungswerk in der Kamenzer Straße seinen Namen trägt, ist kein Ersatz dafür. Aber es sichert Herbert Wehner einen Platz im Herzen der Stadt Dresden.

Wehners Volvo