Schatzsuche in Dresden
Aus dem Archiv der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung (Teil 1)
Von Christoph Meyer
Ketzer, Verbrecher, Verräter – die Kriminalisierung des SPD-Politikers Herbert Wehner (1906-1990) hat Tradition seit zehn Jahrzehnten. Das ist Fiktion. Wesentlich realer ist die Tradition, den Ex-Kommunisten und dann führenden Sozialdemokraten zum Opfer von Kriminalität zu machen – von der gezielten Rufmordkampagne bis hin zum Attentat. Ja, das kam und kommt alles vor. Die Geschichte der Attacken auf Wehner zu schreiben, könnte ganze Bücher füllen. Die wichtigsten Quellen dazu befinden sich in seiner Geburtsstadt Dresden, im Archiv der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung (https://www.hgwst.de). Wer Fakten von Fiktionen unterscheiden will, kommt daran nicht vorbei.
Gegen oder ohne Wehner
Beispielquelle 1: Aus einem „Steckbrief“ der SED (1951, HGWST-SD 85-008)
Zwei Linien im Umgang mit der mit Kurt Schumacher wohl stärksten Persönlichkeit ihrer Nachkriegsgeschichte verfolgen Teile der offiziösen Parteigeschichtsschreibung: Bekämpfen oder Beschweigen – wenn es ausführlicher werden muss, geht auch beides in Kombination miteinander. Die Motivlage dabei ist oft gemischter Natur. Folgendes, so vermute ich, kommt da zusammen:
- Altes antikommunistisches Ressentiment,
- die unreflektierte Übernahme rechter und rechtskonservativer Kampagnen,
- die Schützengräben alter innerlinker und innerparteilicher Grabenkämpfe
- unkritische Partei- und Brandt-Hagiographie, gouvernementale Kanzlergeschichtsschreibung,
- historische Frontbegradigungsversuche,
- karrieristische Zitier- und Interpretationskartelle sowie
- Faulheit beim Arbeiten mit Originalquellen.
Der Keller in Bonn scheint tiefer als er ist, und Dresden liegt nicht an der entscheidenden Autobahn.
Dabei gibt es hier einen Schatz, er ist gesichert, noch nicht ganz gehoben, aber doch nutzbar – ich habe das Archiv und seine Bestände neulich erst vorgestellt, hier zu finden unter dem Link https://www.hgwst.de/archiv2022/.
Immerhin, das Bundesarchiv in Koblenz hat den Schatz für sich entdeckt.
Beispielquelle 2: HGWST-GW 169-016: Kabinettssitzung am 18.2.1970,
Blatt mit Redebeiträgen von Egon Franke, Willy Brandt,
Wolfgang Mischnick und Helmut Schmidt sowie
Randnotizen von Herbert Wehner)
Jedenfalls für seine Quellenpublikationen zur Geschichte der Deutschlandpolitik nutzt es die Aufzeichnungen von Herbert Wehner zur politischen Seite der Häftlingsfreikäufe und Familienzusammenführungen im geteilten Deutschland. Die Wehner-Stenogramme des „HF“-Bestandes sind nahezu vollständig transkribiert und damit entschlüsselt. Doch andere Editionen, etwa die zur Fraktionsgeschichte oder der Kabinettsprotokolle der Bundesregierung meinten und meinen, ebenso wie die weitaus meisten Zeitgeschichtsschreiber, ohne Wehners wortwörtliche Mitschriften der zahlreichen Sitzungen und Gesprächsrunden auskommen zu können. Dabei geht es da gar nicht in erster Linie um die Geschichtsschreibung zu Herbert Wehner selbst – seine eigenen Redebeiträge konnte er ja gar nicht mitschreiben!
Da wäre also noch viel zu entschlüsseln. Eine ehrenamtlich geführte Stiftung kann das jedoch nicht.
Aktuelle Kriminalromane
Von den Fakten einmal kurz zur Fiktion. Der zeitgeschichtliche Kriminalroman hat längst die Ära Brandt für sich entdeckt. Dabei kommt Wehner bislang eher nicht vor – und wenn, dann nur in kurzen, negativ getönten Charakterisierungen, etwa in Brigitte Glasers „Rheinblick“ (Ullstein Taschenbuch 2020, S. 120), wo er als harte, disziplinierte, freudlose und eher autoritäre Persönlichkeit geschildert wird. Der Krimi verbleibt allerdings in den Vorzimmern der Macht, das tut ihm durchaus gut. Mitten hinein ins Geschehen geht dagegen Hartmut Palmers „Verrat am Rhein“ (Gmeiner-Verlag, 2022). Der Roman kreist um das Misstrauensvotum von 1972; dabei vertritt er die steile These, ausgerechnet CSU-Chef Franz Josef Strauß sei der Dritte gewesen, der neben den beiden von der Stasi bestochenen CDU/CSU-Abgeordneten Steiner und Wagner Barzel die entscheidende Stimme verweigert habe. Was allerdings wundert ist, dass Herbert Wehner gar nicht vorkommt. Dabei hatte dieser doch 1979 im Interview selbst gesagt: „Ich kenne zwei Leute, die das bewerkstelligt haben, der eine bin ich, der andere ist nicht mehr im Parlament.“ (Zeugen der Zeit, im Gespräch mit Jürgen Kellermeier, NDR 1980). „Der andere“ war der Parlamentarische Geschäftsführer Karl Wienand; von Palmer wird er zum alleinigen Urheber der Idee erklärt, die SPD-Abgeordneten sollten an der Abstimmung nicht teilnehmen. In der Fraktionssitzung hatte dies jedoch Herbert Wehner vorgeschlagen (vgl. Christoph Meyer: Herbert Wehner, dtv 2006, S. 380). Immerhin jedoch ist der Kriminalroman näher an der Wirklichkeit als zum Beispiel der SPD-Parteihistoriker Bernd Faulenbach in seinem Buch über das „sozialdemokratische Jahrzehnt“ (J.H.W. Dietz-Verlag, 2011, S. 249 und 399), der immer noch die überholte Fiktion wiedergibt, Wienand habe, „vermutlich mit Wissen Wehners“, den CDU-Abgeordneten Steiner auf die SPD-Seite gezogen.
Weiter zurück geht Ralf Langroth in „Die Akte Adenauer“ (Rowohlt, 2021), einer deutsch-amerikanischen Geheimdienstgeschichte, die im Bundestagswahlkampf 1953 spielt. In seiner naiven Adenauer-Begeisterung wirkt der Krimi schon veraltet, spätestens seit der detaillierten Untersuchung von Klaus-Dietmar Henke (Geheime Dienste, Ch. Links, 2022), welcher die umfassende Bespitzelung der SPD-Opposition durch den BND im Auftrag Adenauers restlos aufgedeckt hat. Aber immerhin, hier kommt Herbert Wehner vor, und zwar als Opfer eines Attentatsversuchs rechtsextremer Geheimdienstkreise, der im Wald hingerichtet werden soll. Da hat er schon den Sack über dem Kopf und entgeht seinem Schicksal nur aufgrund eines James-Bond-artigen Einsatzes des Krimihelden. Nun gab es tatsächlich Attentatsversuche auf Herbert Wehner. Diese waren ebenso wie im Krimi eher dilettantisch organisiert und gingen am Ende glimpflich aus. Sie kamen jedoch nicht von rechts, sondern wurden von Agenten der DDR-Staatssicherheit ausgeführt.
Beispielquelle 3: Wahlkampftermine im August 1953 (HGWST-TK 1953-H)
Die Schilderung der Details zu Wehner 1953 ist doch sehr fehlerhaft. Ein Blick in die Terminkalender zeigt, dass er am 29. August, dem fiktiven Datum des Anschlags, gar nicht, wie im Roman, mit einem Fahrer im Rheinland unterwegs war, sondern vielmehr auf dem Weg nach Hamburg war, wo er abends auf dem Harburger Marktplatz sprach. Geschenkt, es ist schließlich ein Roman. Ebenfalls anders als im Roman geschildert, beschäftigte der Parteivorstand keinen eigenen Fahrer für den Wahlkämpfer Wehner; im Wesentlichen erledigte er seine Reisen damals noch mit Zügen der Deutschen Bundesbahn, Greta hatte ja noch keinen Führerschein, und Auto mochte Herbert Wehner nicht fahren. Außerdem kann der Held des Romans Wehner nicht in seiner Wohnung auf dem Venusberg besucht haben; der Umzug in den Kiefernweg erfolgte erst nach der Bundestagswahl, bis dahin wohnte er mit seiner Frau Lotte in der Reutersiedlung. Greta Burmester, „die Stieftochter“ (ebenfalls eine unzutreffende Bezeichnung), wird der Agent an jenen Tagen im August 1953 eher wohl nicht bei Wehner angetroffen haben – dass sie seine „Haushaltshilfe“ und „Sekretärin“ (so auf S. 265, sie war dann allerdings wesentlich mehr!) werden würde, zeichnete sich damals gerade erst ab. Dafür hat Greta im Krimi ihren Hesiod gelesen. Klassische Bildung bei einem Hamburger Arbeiterkind – Chapeau!
Der reale Krimi
(Weiter zum realen Krimi, zu Teil 2, geht es hier.)