Müller irrt zu Wehner

Rezension

Reinhard Müller, Herbert Wehner – Moskau 1937. Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH, Hamburg 2004, 570 S., geb., 35 €.

Herbert Wehner 1946
Herbert Wehner 1946

Den „denunziatorischen Eifer“, den Herbert Wehner (1906-1990) im Jahr 1937 in Moskau an den Tag gelegt habe, versucht Reinhard Müller vom Hamburger Institut für Sozialforschung in diesem Band zu belegen. Dazu will Müller „neue Dokumente aus dem Archiv des ehemaligen KGB“ gefunden haben, mit denen er Wehners „Selbstinszenierung“ und die Wehner-„Hagiographie“ (S. 20) zu widerlegen meint. Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Einer 248 Seiten umfassenden Darstellung mit vielen Fußnoten folgen im Anhang 65 Kurzbiographien, 202 Seiten mit 18 Dokumenten sowie 39 Seiten „Konkordanzen und Vergleiche“. Der Band wird abgeschlossen durch ein beeindruckendes Abkürzungsverzeichnis, ein umfangreiches Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister. Ein Quellenverzeichnis fehlt.

In 20 weiteren Kapiteln variiert Müller seine im ersten Kapitel „Inszenierte Erinnerung“ aufgestellte These, welche lautet: „Die Verhaftungen, Verurteilungen zu Gulag-Haft und Todesurteile gegen deutsche Emigranten (…) wurden durch Wehners denunziatorischen Eifer mitinitiiert.“ (S. 11) Die 1946 als „Rückprojektion“ entstandenen „Notizen“ Wehners seien dagegen als „geschickt verfertigtes mixtum compositum aus Fakten, Fiktionen und Verdrängungsmustern“ (S. 19) zu verstehen. Dann schildert Müller die Karriere des „jungen Kaders“ in Sachsen und im Berlin der frühen dreißiger Jahre. In der KPD wie später in der SPD sei Wehner geprägt gewesen durch „sublimierende Selbstkasteiung, die freiwillige Unterwerfung und Aufopferung im Dienste der zum Fetisch erhobenen Partei“ (S. 26). Als technischer Sekretär des Politbüros habe Wehner schon 1932 eine Untersuchung gegen den „roten Medienzar“ Münzenberg durchgeführt, ihn „vorgeladen und zu seinen Zigaretten-Unternehmen befragt“ (S. 32). Auf eine Schilderung der innerparteilichen Gruppenkämpfe und oppositionellen Gruppierungen der ersten Hälfte der dreißiger Jahre, folgt Müllers Hinweis, daß Wehner die Beteiligten im Jahre 1937 denunziert habe. In Paris habe Wehner 1936 in Veröffentlichungen, Presseauswertungen und internen Berichten „Trotzkisten“ und deren Verbindungen auch in anderen Exilgruppen wie SAP, ISK, „Neu Beginnen“ u.a. nachgespürt und sich so weiterhin als Experte in „Kaderfragen“ empfohlen und betätigt. Die Auseinandersetzung Wehners mit Ulbricht über die Volksfrontpolitik hat laut Müller in einem Streit über einen „Versöhnungsaufruf“ Ulbrichts bestanden, in dem Wehner lediglich die offizielle Linie der Komintern verfolgt habe (S. 91ff.).

Wehner habe dann „Anfang Januar 1937“ (S. 95 – laut einer Notiz von Wilhelm Pieck kam er jedoch erst am 11. Januar an) Moskau erreicht und ein Zimmer im Hotel Lux bezogen. Er habe zwar mit einer baldigen Rückkehr nach dem Westen gerechnet, sei dann aber „ins Visier der deutschen Referenten in der Kaderabteilung des EKKI“ geraten. Müller beschreibt dann, ohne dies in einen Zusammenhang mit Wehner zu bringen, die Erfassung und „Säuberung“ genannte Verfolgung von „Versöhnlern“ und „Trotzkisten“ aus der deutschen KPD durch das NKWD in den Jahren 1935 und 1936. Schon im Sommer 1936 gab es eine „Trotzkisten-Liste“ der Kaderabteilung mit 40 Personen, die bereits verhaftet waren bzw. in den folgenden Monaten verhaftet wurden (S. 111). Im Januar 1937 habe sich Wehner dann „als der am besten informierte Experte auch zu ‚Kaderfragen‘ innerhalb der KPD-Führung zu profilieren“ (S. 123) versucht und eine Reihe von Berichten hierzu verfaßt. Auch mit Presseübersichten und Buchkritiken habe Wehner sich als „vernichtender Rezensent“ (S. 138) betätigt. Im Februar 1937 nahm Wehner an mehrtägigen Beratungen zu „deutschen Fragen“ im Sekretariat der Komintern teil. Aus weiteren Beratungen zu „Kaderfragen“ wurde er ausgeschlossen; er verlor gegen den „gewitzten Machtpolitiker Ulbricht“ (S. 152), wurde aus dem Politbüro entfernt und an untergeordneter Stelle im Sekretariat des EKKI angestellt. Im Frühsommer 1937 sammelten Georg Brückmann und Grete Wilde von der Kaderabteilung des EKKI Belastungsmaterial gegen Herbert Wehner, welches laut Müller auf Anschuldigungen der Funktionäre Erich Birkenhauer, Willi Münzenberg, Hermann Nuding und Hans Hausladen zurückging. Auf das Untersuchungsverfahren gegen Wehner, welches von Februar 1937 bis Sommer 1938 währte, geht er hier nur kurz ein. Nach einigen Ausführungen über die Gepflogenheit des NKWD, sich „geheime Mitarbeiter“ als Informanten zu verpflichten sowie über die Zuarbeit durch KPD-Funktionäre sowie die Kaderabteilung der Komintern kommt Müller auf den Höhepunkt der Verfolgungen in der Emigration zu sprechen, als bis April 1938 „bereits 70 Prozent der KPD-Mitglieder in der Sowjetunion verhaftet“ (S. 167) waren. Zu diesen Verfolgungen habe die KPD-Führung aktiv beigetragen, indem sie, auch unter Beteiligung Wehners, listenweise Ausschlüsse von Mitgliedern beschloß, die in die Verfolgungsmaschinerie des NKWD geraten waren.

Ab Januar 1937 habe Wehner sich als „Trotzkismus-Experte der KPD“ (S. 176) betätigt und in diesem Zusammenhang Anfang Februar seinen „Beitrag zur Untersuchung der trotzkistischen Wühlarbeit in der deutschen antifaschistischen Bewegung“ im Sekretariat der Komintern abgeliefert. Der Beitrag Wehners sei „wahrscheinlich Anfang Februar 1937“ auf dem Dienstweg an die Geheimpolizei weitergeleitet worden. „Nur auf der Grundlage von Wehners schriftlicher Expertise und nach dessen protokollierten Informationen“, so Müller, habe das NKWD „einen Direktivbrief zur Verfolgung der ‚deutschen Trotzkisten‘ verfertigen“ (S. 179) können. Weitere Informationen habe Wehner in drei Besprechungen mit dem NKWD im Februar 1937 in der Lubjanka geliefert. Ohne Kenntnis der Protokolle vergleicht nun Müller „Aussagen und Verlauf der Wehnerschen Lubjanka-Aufenthalte“ mit denen anderer Emigranten und kommt auf Grundlage von Wehners „Notizen“ aber angeblich im Gegensatz zu den darin enthaltenen Aussagen zu dem Schluß, „daß Wehners Einvernahme vergleichsweise bürokratisch-undramatisch‘“ verlaufen sei (S. 186). Seine zentrale These von Wehners Zuarbeit zu dem „Vernichtungsbefehl“ des NKWD-Chefs Jeschow begründet Müller damit, daß nur er über „so spezifische Kenntnisse“ verfügte, wie sie im Anhang des Direktivbriefs auftauchten (S. 193). Sie seien „durch die protokollierte ‚Niederschrift‘“ seiner Aussagen beim NKWD (welche Müller allerdings nicht kennt) dort eingegangen.

Der Kernthese von Müllers Untersuchung, nämlich die Behauptung, Herbert Wehner habe mit seinem „Beitrag“ von Februar 1937 bewußt und mit dem Ziel einer geheimpolizeilichen Verfolgung nicht nur eine Zuarbeit zu dem Jeschow-Befehl geleistet, sondern diesen geradezu intendiert, steht auf tönernen Füßen, und zwar aus mehreren Gründen:

  1. Wehner liefert eine Analyse des Einflusses von „Trotzkisten“ auf das kommunistische und das sozialistische Exil und leitet daraus die Erfordernis ab, auf dem Gebiet der Propaganda „eine offensive Kampagne gegen den Trotzkismus“ (S. 346) zu führen. Jeschow bezieht sich auf die „terroristische, Diversions- und Spionagetätigkeit der deutschen Trotzkisten im Auftrag der Gestapo auf dem Territorium der UdSSR“ und befiehlt geheimdienstliche Ermittlungen, eine Ausdehnung der Agententätigkeit und die Verhaftung von Personen, „die auf Grund dieser oder jener Umstände noch nicht repressiert worden sind“ (S. 368). In 33 Seiten „Orientierung“ werden dann Angaben über die Tätigkeit deutscher „Trotzkisten“ und „Versöhnler“ vor 1933 und im westlichen Exil aufgeführt. In Aufbau und Intention sind „Jeschow-Befehl“ und „Wehner-Beitrag“ also grundsätzlich verschiedene Texte.
  2. Im Jeschow-Befehl und in der „Orientierung“ sind zahlreiche Informationen enthalten, die in Wehners „Beitrag“ fehlen. Hier nur einige Beispiele:
    1. Wehner nennt den „Lenin-Bund“ der Gruppe Hugo Urbahns, welche noch Verbindungen nach Hamburg und Berlin unterhalte (S. 329). Im NKWD-Direktivbrief steht, daß Urbahns seiner Gruppe 1935 die Direktive erteilt habe, mit der IV. Internationale zusammenzuarbeiten (S. 364). Diese zusätzliche Information fehlt bei Wehner.
    2. Als Auslandsstützpunkte der SAP nennt das NKWD neben Paris und Prag auch Amsterdam, Brüssel, Oslo, Stockholm und Kopenhagen (S. 392). Bei Wehner werden diese Orte nicht aufgeführt (S. 331).
    3. Im NKWD-Brief heißt es: „Die Leitung der antisowjetischen Tätigkeit der deutschen Trotzkisten wird von Trotzki durchgeführt“, dem es um „die Einschleusung von Terroristen in die UdSSR“ gehe, wozu die „Schaffung von konspirativen trotzkistischen Kadern innerhalb der KPD“ diene (S. 365). Hiervon ist bei Wehner nicht die Rede.
    4. Wehner nennt Max Diamant als „entschiedener Trotzkist“, „russischer Menschewik“ und früherer „SPD-Redakteur in Mannheim“, der noch Angehörige in der Sowjetunion habe (S. 333). Im Jeschow-Befehl heißt es, ein „ehemaliger bekannter russischer Menschewik“ mit dem Decknamen „Diamant“ spiele eine führende Rolle im „konspirative[n] trotzkistische[n] Zentrum in der sogenannten Sozialistischen Arbeiterpartei“ (S. 364). Die beiden „Informationen“ unterscheiden sich sowohl nach Art als auch nach Umfang. In vergröberter und entstellter Form kommen Wehners Informationen über Diamant auch in der „Orientierung“ zu dem Befehl vor. Aus Wehners Hinweisen auf „Angehörige“ von Diamant in der Sowjetunion (gemeint waren dessen Eltern) wurden hier „bisher nicht geklärte“ Verbindungen in die UdSSR. Müller wirft Wehner vor, die Eltern von Diamant im Dezember 1937 noch einmal genannt zu haben. Zu diesem Zeitpunkt war der Vater von Diamant dem Terror schon zum Opfer gefallen.

    Aus diesen und anderen Stellen ergibt sich, daß das NKWD über eine oder eher eine Vielzahl anderer Quellen verfügt haben muß als die Ausarbeitung von Herbert Wehner.

  3. Eine durch den Rezensenten vorgenommene Auszählung unterstreicht den Unterschied zwischen beiden Quellen. Im „Jeschow-Befehl“ samt „Orientierung“ werden 115 Personen namentlich genannt, in Wehners „Beitrag“ 45. In beiden Texten zugleich kommen 24 Personen vor. Darunter sind einige in einschlägigen Kreisen allseits Bekannte und Prominente wie Trotzki, Edo Fimmen, Ruth Fischer, Heinrich Brandler etc. Unter den „Nicht-Prominenten“ unter diesen 24 befindet sich – ausweislich der biographischen Angaben in Müllers Fußnoten – niemand, der in der Sowjetunion Repressionen zu erleiden hatte.

Da der Jeschow-Befehl und Wehners „Beitrag“ also zu wenig miteinander zu tun haben als daß Müller der Nachweis für Wehners „denunziatorischen Eifer“ an dieser Stelle gelingen könnte, unterstellt er einfach, Wehner habe in seinen Februar-Gesprächen in der Lubjanka entsprechende weitere Informationen geliefert (S. 190). Die Protokolle dieser Gespräche waren allerdings, wie Wehner in seinen „Notizen“ schreibt und auch Müller weiß, schon im Herbst 1937 in der Lubjanka „nicht mehr auffindbar“ (S. 191). Müller kann also damit seine These nicht beweisen, es handelt sich um reine Spekulation. Wehners Ausarbeitung von Dezember 1937 ist hier insofern von Interesse als Wehner selbst hierin ankündigte, er werde „zu rekonstruieren versuchen, was ich im Februar 1937 hier zu Protokoll gab“ (S. 470). Wenn ihm dies mit den Dezember-Aufzeichnungen gelungen sein sollte, so ist zu konstatieren, daß der Zusammenhang zwischen Wehners Februar-Aussagen und dem Jeschow-Befehl samt „Orientierung“ ebenfalls bestenfalls marginal ist. Zwischen beiden Texten gibt es insgesamt sieben personelle Überschneidungen.

Auf Müllers Darstellung folgt eine 65 Personen umfassende Liste von Kurzbiographien, in der in der Sowjetunion verhaftete deutsche Emigranten und KPD-Mitglieder aufgeführt werden, die Verfolgungen durch das NKWD ausgesetzt waren sowie insgesamt 13 von den 47 Personen, die Herbert Wehner in einem Verhör durch das NKWD im Dezember 1937 genannt hatte. Von diesen 65 Personen wird niemand in Wehners „Beitrag“ von Februar 1937 auch nur erwähnt. Die Liste an sich mag ja interessant sein, aber in einem Buch über Herbert Wehner in Moskau 1937 ist sie fehl am Platze.

Die 16 im Anhang abgedruckten Dokumente aus der Hand von Herbert Wehner geben ebenfalls großteils wenig Stoff zur Untermauerung von Müllers These vom exzessiven Funktionstäter Wehner. Im wesentlichen handelt es sich dabei um aus Presseberichten zusammengestellte Analysen und Argumentationsleitfäden. Im übrigen geht Müller bei fünf dieser Texte lediglich aufgrund einer Vermutung von einer Autorschaft Wehners aus. In mindestens zwei dieser Fälle ist diese Autorschaft zweifelhaft. Der Text „Zu den Kaderfragen der KPD“ vom 22. Januar 1937 erinnert sprachlich wenig an Herbert Wehner. Der anonyme Beitrag „Die deutschen Trotzkisten und die Gestapo“ von August 1937 wird von Wehner in den Dezember-Aufzeichnungen selbst gegenüber dem NKWD als „Broschüre der KPD.“ bezeichnet. Da Wehner sich in diesen Aufzeichnungen der Geheimpolizei als besonders wachsam darstellen wollte – warum hätte er seine Autorschaft da verschweigen sollen?

Wenig überzeugend sind die „Konkordanzen und Vergleiche“, mit denen Müller seinen umfänglichen Band abschließt. Dem Autor waren die Ähnlichkeiten zwischen Jeschow-Befehl und angeblichen Zuarbeiten Wehners wohl selbst zu vage, weswegen er zwischen den einander gegenübergestellten Passagen noch eigene längliche Interpretationen eingefügt hat.

Sprachlich ist das Werk Müllers wenig überzeugend. Es wimmelt, auch in den überbordenden Fußnoten, von Wiederholungen. Wo es an handfesten Quellenbeweisen fehlt, arbeitet der Autor mit herabsetzenden Kraftausdrücken so zum Beispiel ist Wehner ein „omnipotenter Experte für ‚Parteisäuberungen‘ und Kaderfragen“ (S. 30), der „Parteitaktiker Wehner“ (S. 45) mit „paranoidem Komplottdenken“ (S. 69). Müller nennt den „penetranten, hyperaktiven Wehner“ (S. 131), der sich „als omnipotenter Kritiker“ (S. 134) und „vernichtender Rezensent“ (S. 138) präsentiert habe, mit seiner „beckmesserischen Kritik an KPD-Publikationen“ (S. 138), Wehner als „princeps scholasticorum“ (S. 140). Es geht um den „hyperwachsamen und schroffen Wehner“ (S. 160), der mit „paranoider Überkonsequenz“ (S. 181) zu Werke gehe. „Manichäisches Lagerdenken und die Unio mystica mit dem eigenen Kollektiv (…) beim Fundamentalisten Wehner“ (S. 182) und dessen „exzessive Tätigkeit als NKWD-Informant“ (S. 191) macht Müller aus.

Im Zirkelschluß leitet Müller aus Wehners für die Komintern verfaßtem Lebenslauf ab, er habe sich „nicht nur allen Änderungen der ‚Linie‘“ angepaßt, sondern „als konsequenter Eiferer“ alle „Abweichler“ innerhalb der KPD verfolgt (S. 35). Hier läßt Müller unbeachtet, daß sich Wehner 1933 bis 1935 in Opposition zur Politbüromehrheit um Schulte und Schubert befand. Nachdem sich 1935 Pieck, Ulbricht und mit ihnen Wehner mit ihrer Befürwortung der Volksfrontpolitik durchsetzen konnten, geriet Wehner 1936 in Paris in eine Auseinandersetzung mit dem mächtigen Walter Ulbricht, welche eben nicht um irgendwelche Texte von Ulbricht kreiste, sondern es ging um den politischen Umgang mit den an den Bemühungen um eine Einheits- und Volksfront beteiligten Kräfte. Wehners Vorgänger als Chefredakteur der „Neuen Gesellschaft“, Leo Bauer, erklärte 1966 in einer eidesstattlichen Erklärung, Wehner habe in Paris „ohne Aufgabe von Prinzipien, ein hervorragendes Verhältnis zu den sozialdemokratischen Genossen und zu den bürgerlichen Mitgliedern der Volksfront gehabt“, worauf Wilhelm Pieck ihm entgegnet habe, daß Ulbricht also „alles mal wieder kaputt gemacht hat“.

Müller behauptet weiterhin, es lasse sich „kein archivalischer Nachweis finden“ (S. 35) für Wehners spätere Behauptungen, er habe in seinem Bereich der Hysterie entgegengewirkt und einen mäßigenden Einfluß ausgeübt. Nun, auch in Polizeiakten finden sich kaum Aufzeichnungen über Unfälle und Verbrechen, die nicht stattgefunden haben. Im übrigen hätte Müller sich auch an seine eigene Publikation von 1993 erinnern können. So heißt es in einem Dossier von 1939, abgedruckt in Müllers Buch „Die Akte Wehner“, Willi Münzenberg habe gemeldet, daß Herbert Wehner sich bei André Malraux für den in Spanien als angeblicher „Gestapo-Agent“ verhafteten Bruno von Salomon eingesetzt hatte: „Wie Münzenberg mitteilte, erfolgte die Freilassung Salomons nur auf die wiederholte, ultimative Forderung der Führung der KPD in Person des Gen. Funk, der selbst persönlich als Vertreter der KPD die Verantwortung vor der spanischen Regierung über von Salomon auf sich nahm.“ (Müller: Die Akte Wehner, S. 334f.) Bruno von Salomon, ein Bruder des Schriftstellers Ernst von Salomon, war 1935/36 in Paris an den Volksfront-Gesprächen beteiligt und ging dann nach Spanien. Er tauchte nach seiner Rückkehr nach Paris und der deutschen Besetzung in Frankreich und Belgien unter, überlebte mit Mühe und Not im Untergrund und starb 1954 an den Spätfolgen der erlittenen Entbehrungen. „Kein archivalischer Nachweis“? Die Frage ist, was ein Forscher sucht.

Daß Müller Wehner entlastende Zusammenhänge herunterspielt, zeigt sich auch an seinem Umgang mit dem, was aus der NKWD-Akte Wehners auf Umwegen bekannt geworden ist. Aus dieser Akte gibt es direkt nur diejenigen Materialien, welche das MfS der DDR in den sechziger Jahren aus Moskau in Kopie erhalten hatte, eine Auswahl von Wehner für DDR-Schmutzkampagnen belasten sollenden Schriftstücken, welche der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes im Jahr 1994 in einer fragwürdigen Aktion als Kopie der Kopie in größerer Stückzahl an Journalisten weitergegeben hat. Weitere Materialien könnten noch in Moskau schlummern, auch Müller hat sie nicht gesehen. Aus dritter Hand ist jedoch inzwischen einiges über diesen Bestand bekannt: Der KGB-Mitarbeiter Wassili Mitrochin hat in den Jahren 1972-84 größere Bestände aus dem Archiv der Auslandsaufklärung des KGB heimlich abgeschrieben und das Material schließlich in den Westen geschmuggelt. Dort wurde es von dem Publizisten Christopher Andrew zu dem 1999 auch auf Deutsch erschienenen „Schwarzbuch des KGB“ verarbeitet. Zu Wehners Akte heißt es darin, daß daraus hervorgeht, daß Wehner 1937/38 in Moskau nur knapp der Hinrichtung entging. Er war von mehreren Personen denunziert worden; die Taktik des NKWD bei seiner Vernehmung im Dezember 1937 war, „daß er den Eindruck gewinnen sollte, er solle als Agent angeworben werden, daß man aber in Wirklichkeit in Vorbereitung seiner Verhaftung Beweise gegen ihn sammeln wollte“ (Andrew/Mitrochin, S. 558). Auf Seite 252 schreibt Müller: „Laut Andrew/Mitrochin sammelten die NKWD-Offiziere jedoch auch Beweise gegen Wehner.“ Das „jedoch auch“ soll darauf hinweisen, daß die betreffenden Offiziere vor allem andere Motive hatten, nämlich die Abschöpfung Wehners als Informant. Die Quelle „Andrew/Mitrochin“ läßt diesen Schluß jedoch nicht zu, im Gegenteil. Sichtlich ungern zitiert Müller die von Mitrochin zitierte Aktennotiz von Volkskommissar Jeschow vom 22. Juli 1938 (so datiert von Andrews/Mitrochin, S. 558, Müller schreibt: „nicht datierte Aktennotiz“). Diese lautet: „Wo ist die Meldung über die Verhaftung von Funk?“ (S. 558 bzw. Müller, S. 253). Mit dem angeblichen Schutz „durch das wechselseitige Versicherungssystem der amtierenden KPD-Führung“ (S. 253f.) kann es also nicht so weit her gewesen sein. Herbert Wehners Leben wurde gerettet durch Jeschows Entmachtung im Sommer 1938 und das in der Folge spürbar werdende Abebben der großen Terrorwelle. So endet Müllers Darstellung schließlich im argumentativen Niemandsland: „Für die Folterverhöre zur Vorbereitung eines geplanten Schauprozesses gegen den konstruierten ‚Antikomintern-Block‘ in der Komintern konnte der Informant Wehner im Dezember 1937 wichtige Hinweise liefern.“ (S. 256)

Schließlich ergibt sich, auch aus Müllers Untersuchungen selbst, der folgende Sachverhalt: Am 10. oder 11. Januar 1937 traf Herbert Wehner zur Berichterstattung und Diskussion über die „deutschen Fragen“ in Moskau ein. In diesem Zusammenhang fertigte er für das EKKI und die KPD-Spitze Anfang Februar einen „Beitrag zur Untersuchung der trotzkistischen Wühlarbeit in der deutschen antifaschistischen Bewegung“ an, dessen Schlußfolgerung es war, als KPD im Westen verstärkte Propagandaarbeit gegen die „Trotzkisten“ zu leisten. Diese Ausarbeitung wurde aber auch an die Geheimpolizei NKWD weitergeleitet, welche Wehner im Februar 1937 dreimal vernahm. Am 13. oder 14. Februar 1937 erließ der NKWD-Chef Nikolai Jeschow eine Direktive, in welcher er eine Verschärfung der bereits eingeleiteten Verfolgungen von „Trotzkisten“ und „Agenten der Gestapo“ auf dem Gebiet der UdSSR befahl. Für die als Material zu dem Befehl beigefügte „Orientierung“ über das westliche Exil können neben vielen anderen auch einige Informationen aus Wehners Expertise verwendet worden sein. Herbert Wehner war weder der (Mit-)Initiator dieses Befehls noch eine für diesen Befehl unentbehrliche Quelle. Wehner war kein Agent oder inoffizieller Mitarbeiter des NKWD. Wehner war selbst Gegenstand von Ermittlungen des NKWD mit dem Ziel, ihn zum Opfer des Terrors zu machen. Müller liefert keine Beweise dafür, daß Verhaftungen und Repressionen in der Sowjetunion auf Aussagen und Denunziationen von Herbert Wehner zurückgehen.

Bei Müllers Untersuchung handelt es sich nicht um das abgewogene Urteil eines die Regeln der wissenschaftlichen Arbeit streng beachtenden Historikers. Als Ankläger sucht er einseitig nach Belastungsmaterial. Der umfangreiche wissenschaftliche Apparat dient der formalen Camouflage für ein letztlich parteiisches, unwissenschaftliches Herangehen. Dazu gehört das Herabwürdigen der Erinnerungen Wehners als „Selbstinszenierung“, während Müller die in und aus Moskau überlieferten Akten für eine besonders glaubwürdige Quelle hält. Dies führt notwendigerweise zu einem Zerrbild, das Wehner einseitig belastet. Denn das, was ihn aus heutiger Sicht entlasten könnte, im Moskau des Jahres 1937 zu Papier zu bringen, hätte ihn damals nicht nur belastet, es wäre geradezu lebensgefährlich gewesen.

Am Ende bleibt ein schaler Beigeschmack über den Eifer, mit dem der Autor gegen seinen Gegner Wehner vorgeht, so, als gelte es, die schon zu Lebzeiten nahezu pausenlos geführten Schmutzkampagnen von KPD, SED, MfS und rechtsgerichteten Kreisen heute, gegen den Toten, zum damals nicht erreichten erfolgreichen Abschluß zu bringen.

Christoph Meyer, Dresden

Müller irrt zu Wehner