Herbert Wehner und der 17. Juni

Er erfand den „Tag der deutschen Einheit“

Von Christoph Meyer

Was heute der 3. Oktober, war früher, in der alten Bundesrepublik, der 17. Juni, nämlich der „Tag der deutschen Einheit“, also der nationale Feiertag, an dem des Arbeiteraufstandes von 1953 gedacht wurde. Es war der gebürtige Dresdner Herbert Wehner, von 1949 bis 1966 Vorsitzender des Bundestagsausschusses für gesamtdeutsche Fragen, der diesen Feiertag im Bundestag durchsetzte und ihm seinen Namen gab.

Vom Aufstand im Osten zum Feiertag im Westen

Als Arbeiter und Bevölkerung in der gesamten DDR sich am 16., 17. und 18. Juni 1953 gegen das SED-Regime erhoben, stießen sie in der Bundesrepublik auf breite Sympathie in allen politischen und gesellschaftlichen Gruppen. Aber eingreifen wollte (und konnte) der Westen nicht. Zu groß wäre die Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung gewesen. Aber die Demonstrationen im Osten boten von Anfang an Anlaß zu Demonstrationen im Westen. Schon am 17. Juni 1953 selbst veranstaltete die SPD in West-Berlin eine Solidaritätskundgebung mit 10.000 Teilnehmern. Auch in Westdeutschland setzten sich Menschen in Bewegung, so die Aachener Studentenschaft mit einem Schweigemarsch am Abend des 18. Juni sowie die Bürger von Marl am 20. Juni. Am 23. Juni 1953 gedachten schließlich vor dem Schöneberger Rathaus mehrere zehntausend Menschen der Opfer des Aufstandes. Es bot sich also geradezu an, den 17. Juni zu einem Tag der Bekenntnisse zur Wiedervereinigung zu machen. Als erstes schlug, am 24. Juni 1953, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion einen „Nationalen Gedenktag“ vor, und schon wenige Tage später forderte die SPD, den 17. Juni zum „Nationalfeiertag“ zu erheben. In einer Bundestagsdebatte zum Aufstand sprachen für die SPD ein junger Abgeordneter aus Berlin namens Willy Brandt und Herbert Wehner. Dieser zitierte Karl Marx, als er formulierte: „Die Arbeiter sind zwar geschlagen worden, aber sie sind nicht besiegt! Besiegt sind ganz andere, das wird die Geschichte zeigen!“ Die Anträge zum Gedenk- bzw. Feiertag wurden in die Ausschüsse überwiesen.

In der Ausschußsitzung am 2. Juli sprach die CDU sich zunächst gegen den Feiertag aus. Der 17. Juni solle lediglich ein „Nationaler Gedenktag des deutschen Volkes“ werden. Die oppositionelle SPD, angeführt von ihrem Ausschußvorsitzenden Herbert Wehner, bestand jedoch auf der Einführung eines Feiertages. Herbert Wehner war es, der den Namen „Tag der deutschen Einheit“ vorschlug. Die Regierungsfraktionen wollten sich keine Blöße geben. Denn mit ihrem einseitigen Westbindungskurs trug die Adenauer-Regierung de facto zur Vertiefung der deutschen Teilung bei. Für dieses Handeln nun auch noch durch die Ablehnung eines der Wiedervereinigung gewidmeten Feiertags ein Symbol zu setzen, das wäre wenige Monate vor den Bundestagswahlen von 1953 eine gute Argumentationsgrundlage für die deutsche Wiedervereinigungspartei der fünfziger und sechziger Jahre, nämlich die SPD, gewesen. Und so wurde schon am 3. Juli 1953, also gut zwei Wochen nach dem Aufstand, mit den Stimmen aller Parteien außer der KPD das „Gesetz über den Tag der deutschen Einheit“ verabschiedet.

Reden zum Tag der deutschen Einheit

Bei der wechselvollen Entwicklung des „Tages der deutschen Einheit“ war Herbert Wehner (fast) immer mit von der Partie. Im Jahre 1954 gehörte er zusammen mit Jakob Kaiser (CDU), Erich Ollenhauer (SPD), Thomas Dehler (FDP), Wilhelm Wolfgang Schütz und anderen zu den Begründern des Kuratoriums Unteilbares Deutschland. Jahr für Jahr veranstaltete diese Organisation zum 17. Juni Demonstrationen, Feierstunden, Schweigemärsche, Fahnenstafetten und vieles mehr. Die Beteiligung lag Ende der fünfziger bis Mitte der sechziger Jahre alljährlich bei weit über einer Million Menschen. Tausende von Politikern sprachen auf Kundgebungen in allen Orten der Bundesrepublik und West-Berlin.

Wehner als Sozialdemokrat war stolz darauf, so meinte er am 17. Juni 1961, daß gerade „die arbeitende Bevölkerung“ mit „bloßen Händen“ die „Embleme der Diktatur von den Postamenten riß“. Er geißelte in seinen Reden den „kommunistischen Separatismus“, kritisierte scharf das undemokratische SED-Regime. Aber er wies auch darauf hin, daß die Machthaber in der DDR Möglichkeiten zu menschlicheren Entscheidungen hatten. Und er forderte sie auf, diese Möglichkeiten zu nutzen, Gefangene freizulassen.

Herbert Wehner suchte, so drückte er es am 17. Juni 1957 in Dortmund aus, „die Verbindung zu den Herzen“ derjenigen, die nach dem Aufstand inhaftiert worden waren. Die Fluchtbewegung nahm Wehner aufmerksam zur Kenntnis. Am 17. Juni 1961 sagte er den Bau der Mauer voraus: Er behauptete, daß SED-Chef Ulbricht bei Chruschtschow darauf dränge, „daß Berlin und die Zone hermetisch gegen das übrige Deutschland abgeriegelt werden“. Acht Wochen später wurde die Mauer errichtet.

Herbert Wehner war, wie seine Reden zum 17. Juni zeigen, einer der klarsichtigsten Deutschlandpolitiker der Bundesrepublik. Während viele Beiträge anderer Politiker sich auf platte antikommunistische Propaganda beschränkten, im wesentlichen einen Kalten Krieg führten, sind die Reden Wehners von einer tiefen Menschlichkeit und Mitgefühl gekennzeichnet, wie es wohl nur einer empfinden konnte, der selbst von seiner sächsischen Heimat geprägt war – und der – dank seiner Moskauer Emigrationszeit – das kommunistische Regime von innen kannte.

Herbert Wehner beschränkte sich nicht aufs Reden. Er half den Menschen in der DDR. Als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen (1966-1969) verstärkte er die Bemühungen um den Freikauf politischer Häftlinge, und als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion (1969-1983) setzte er diese Anstrengungen fort. Natürlich geschah dort vieles auf verdeckten Kanälen, handelte es sich um die Bestechung eines korrupten Systems. Aber hier ging es um die Schicksale von Personen, um konkrete Menschlichkeit. Tausende von Menschen haben ihre Freiheit den Bemühungen von Herbert Wehner zu verdanken.

Herbert Wehner und der 17. Juni