Gerd Hennig – zum Gedenken
Gerd Hennig, Bühnenbildner, Grafiker und Designer, ist nach langer Krankheit am 30. Dezember 2021 in Chemnitz verstorben. Der Künstler schuf in den 90er Jahren das Logo des Herbert-Wehner-Bildungswerks, den charakteristischen Wehner-Scherenschnitt, im Profil mit Pfeife. Damit verlieh er dem Bildungswerk Gesicht, Konturen und klare Linien. Die beiden ehemaligen Geschäftsführer, Klaus Reiners und Christoph Meyer, erinnern sich an einen guten Freund und Ratgeber.
I. Klaus
Als das Herbert-Wehner-Bildungswerk am 14. September 1992 in Chemnitz gegründet wurde, erhielt ich den ehrenvollen Auftrag als Gründungsgeschäftsführer das Ganze vom Kopf auf die Füße zu stellen. Ich mietete ab Januar 1993 vor Ort in Chemnitz, Dresdner Str. 38 ein Büro. Es war das ehemalige Gebäude – oder besser der Komplex – des SED-Bezirks, das die Landes SPD nun zurückbekam als Entschädigung für die vielen anderen von der SED konfiszierten SPD-Immobilien.
In dem Gebäude fand sich auch das Büro des SPD-Landesbezirks und das Büro des SPD-Landtagsabgeordneten und Landesvorsitzenden Michael Lersow. Die Büroleiterin hieß Viola Hennig, die ursprünglich vom Stadttheater in Chemnitz kam.
Als Ein-Mann-Betrieb hätte eigentlich alles gleichzeitig passieren müssen: Die Vorbereitung der Seminare, die Akquise dazu und, und. Da das Bildungswerk ganz neu gegründet war, legte ich den Schwerpunkt auf Werbung, um Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu gewinnen. Ich brauchte einen Grafiker, und zwar einen richtig guten. Viola schien mir wegen ihrer beruflichen Erfahrung jemand zu sein, die mein Anliegen verstand und vielleicht weiterhelfen konnte. „So was könnte der Gerd“, war ihre spontane kurze Antwort. Der hätte sein Büro in der zweiten Etage. Ich hatte im Flur schon mal laute Arien gehört, aber in den zweiten Stock war ich ansonsten noch nicht vorgedrungen. Auf dem Weg nach oben ertönte sie wieder: Laute Musik, Arien. Nicht meine Musik, aber darum ging es ja nicht.
Dann sah ich Gerd zum ersten Mal: Der ganze Mann bestand zu einem großen Teil aus Bart, der das ganze Gesicht versteckte und weit unterm Kinn auch noch das Jeanshemd bedeckte. Wache, flinke Augen, ein breites Sächsisch, aber zunächst nur so Worte wie Tach, ja, Komm rin und ein breites sächsisches Hmmm. Dazu war er barfuß in seinem wuseligen Büro. Das Ganze war schräg und dieser Mensch hatte mich sofort von sich eingenommen. In der damaligen Nach-DDR war ziemlich viel grau, die Menschen angespannt, nicht wissend, was dieses System so alles für sie bereithielt.
Die anfängliche Euphorie der blühenden Landschaften war längst einer realistischen Wahrnehmung, einer beginnenden Skepsis gewichen. Und in all dem: Gerd, der Künstler.
Meine Wünsche an ihn waren: Ein unverwechselbares Signet und eine kleine, transportable Ausstellung zur Vorstellung des Bildungswerks – natürlich musste der Herbert Wehner darin integriert sein. Nicht nur als gebürtiger Sachse, sondern als Lehrmeister, als Vorbild für die Politische Bildung.
Viele Gespräche und einige Wochen später übergab Gerd mir zwei Entwürfe eines Signets: Einer zeigte ein Bild von Herbert Wehner, der andere war eine Art Scherenschnitt vom Seitenprofil mit der dampfenden Pfeife. Das Ganze in einem rot umrandeten Quadrat.
Greta Wehner wurde überzeugt: Der Scherenschnitt wurde es. Das Herbert-Wehner-Bildungswerk hatte ein Gesicht! Gerd, der Kreative.
Im Frühjahr 1993, also wenige Wochen später, sollte der SPD- Landesparteitag der Sachsen in Zwickau stattfinden. Der erste Auftritt des neuen Bildungswerks in der Öffentlichkeit, Darstellung und Werbung zugleich. Und Gerd arbeitete. Die Idee war, im Eingangsbereich die Ausstellung aufzubauen und zwar so, dass jeder, um in die Halle zu gelangen, an dieser Ausstellung vorbei musste. Dazu wollten wir schon vor dem Eingang die Besucherinnen und Besucher gezielt danach fragen, was ihnen zu Herbert Wehner spontan einfiele. Das Gespräch sollte mit dem Hinweis auf die Ausstellung beendet werden. Am Vorabend wurde aufgebaut, hin und her überlegt, wie was zu stellen sei. Gerd und Viola waren unermüdlich. Endlich waren wir alle zufrieden. Es war bereits später Abend und wir gingen zum Hotel. Wenig später nahm mich ein Vertrauter und Freund beiseite. Er berichtete, dass Greta Wehner ganz alleine die Ausstellung angesehen hätte, lange verweilt hätte vor den einzelnen Exponaten, aber oft nickend weitergezogen sei zum nächsten Ausstellungsstück. Greta war natürlich in die Konzeption mit einbezogen worden, die Umsetzung sah auch sie jetzt zum ersten Mal. Ein kleiner Ritterschlag. Danke, Gerd.
Der Parteitag begann am nächsten Morgen. Wir wussten aus den Gremiensitzungen am Vorabend, dass es Auseinandersetzungen gegeben hatte zwischen dem Landesvorsitzenden Michael Lersow und dem Fraktionsvorsitzenden Karl-Heinz Kunckel. Beide wollten auf dem Parteitag kandidieren, als Beisitzer für den SPD-Parteivorstand.
Gerd baute auf der Empore die Kamera des Bildungswerks auf, die normalerweise dazu dienen sollte, bei Rhetorik-Seminaren zum Einsatz zu kommen. Und tatsächlich. Der Landesvorsitzende Michael Lersow eröffnete den Parteitag und trat zurück. Wir hatten alles aufgenommen! Gerd, der Politische.
Die Ausstellung reiste dann auf den Bundesparteitag nach Wiesbaden, nach Stenden zur Heimvolkshochschule und zum Bezirk Niederrhein und, und.
Immer dabei: Gerd und seine Frau Viola.
Dabei war immer das Programm des Bildungswerks und eine kurze Broschüre über das Herbert-Wehner-Bildungswerk und den Freundeskreis: Beginn und Entwicklung.
Gerd – Ich habe einen guten Freund und Ratgeber verloren.
II. Christoph
Als am 1. Januar 1998 ich die Geschäftsführung – nicht direkt von Klaus – übernahm, hatte das Herbert-Wehner-Bildungswerk, mittlerweile in Dresden, zwar kaum eine Adresse – aber es hatte einen Wiedererkennungswert, das war das von Gerd Hennig geschaffene Logo. Den Künstler lernte ich dann auch bald kennen, und das war ein echter Gewinn.
Sein erster Auftrag von mir war die Gestaltung der ersten „Wehnerpost“, eine Nullnummer des legendären Newsletters des Bildungswerks, wir verteilten sie im April auf dem SPD-Bundesparteitag in Leipzig, der „Krönungsmesse“ für Gerhard Schröder. Vorne drauf Fotos und Empfehlungen von Hans-Jochen Vogel und Johannes Rau. Hinten ein paar Veranstaltungshinweise und die Werbung zum Beitritt in den im Vorjahr von Vogel in Dresden erstmals einberufenen Freundeskreis Herbert-Wehner-Bildungswerk
Alles war in Schwarz- und Grautönen gehalten, rote Balken und Kästen kamen hinzu – Logo und Layout wirkten modernistisch, etwas streng, also seriös, durch die Silhouette, die ja war wie eine Karikatur, humorvoll, ja frech. Das war der Gerd-Hennig-Stil, der passte in die damalige Zeit, da ging es immer darum, den Aufbruch, den die Sachsen in der Ära Biedenkopf verschlafen hatten, dann doch noch zuwege zu bringen. Zur sächsischen Sozialdemokratie passte auch der Konjunktiv irrealis des Gerd Hennig. Mit „‘S hätt‘ ja sein können, dass…“ oder „es könnte vielleicht…“ begannen viele seiner Sätze, hinter der verschmitzt vorgetragenen Bescheidenheit verbarg sich – wie hinter dem Bart – dann ein wacher Geist, Scharfsinn und in Wahrheit ganz genaues Bescheid-Wissen.
Die Wehnerpost ging dann in Serie, halbjährlich erschien sie während meiner Geschäftsführerzeit, Umfang 8 bis 12 Seiten, das Bildungswerk hatte jetzt nicht nur ein wiedererkennbares Symbol, sondern auch ein Medium, ein eigenes, das in mehrtausendfacher Auflage durchs Land ging. Das war etwas zum Identifizieren für die Mitglieder des Freundeskreises, aber auch für die Breitenwirkung. Ich erinnere mich – ich war zugegen und tat lieber so als hörte ich eigentlich gar nicht zu – wie Hans-Jochen Vogel, einmal in Berlin am Rande einer Tagung, im öffentlichen Bus, die Wehnerpost in der Hand haltend, zu einem Mitfahrenden meinte: „Kuck mal, das kommt aus Sachsen vom Herbert-Wehner-Bildungswerk, das sieht aus als würden da zehn Leute arbeiten, dabei sind die nur zu zweit!“ Ja, so wirkte, was der Gerd machte.
Nach Wiedererkennungswert und Medium hatten wir dann ab 1999 in Dresden auch einen Ort. Ab Februar prangte Gerd Hennigs Logo über dem Schaufenster auf der Fassade des neuen Ladenlokals in der Kamenzer Straße in der Dresdner Neustadt. Die Plakate für die erste Ausstellung in den öffentlich sichtbaren Räumen schuf natürlich Gerd Hennig, ebenso wie „Flyer“, Briefbögen, Veranstaltungshintergründe und –dekorationen sowie natürlich immer wieder die „Wehnerpost“.
Das Ganze ging, bis seine nachlassende Gesundheit dem Künstler in der zweiten Hälfte der Nullerjahre immer mehr Striche durch die Rechnung machte. Die Wiedersehen mit Viola und Gerd auf den jährlichen Freundeskreistreffen und Grillfesten blieben herzlich, es gab auch ein paar Treffen in Chemnitz oder am Rande von Parteitagen – doch sie wurden immer weniger, leider.
Der Gerd, der hat dem Herbert-Wehner-Bildungswerk und der sächsischen Sozialdemokratie nicht nur eine Silhouette, der hat ihnen ein Gesicht gegeben.
Das bleibt – der fehlt.