zu Behauptungen in dem Artikel „Mehr Täter als Opfer?“ im Spiegel, Heft 40/2002
(01.10.2002) Schriftstücke aus dem Nachlaß des NKWD erscheinen mir wegen der unglaublich vielen Geschichtsfälschungen, die mindestens seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts durch die KPdSU vorgenommen worden sind, häufig kaum glaubhaft. Aber sie werden mit Vorliebe zum Geldverdienen durch Veröffentlichungen genutzt durch Menschen, die diese Zeit nicht erlebt haben. Mit „Behagen“ wird das Leben eines Menschen benutzt, um „Sensationelles“ darüber schreiben zu können und damit einen Schatten auf die SPD zu werfen, in der Herbert Wehner mehr als 35 Jahre – von Herbst 1946 bis Anfang 1983 – für unser Land gewirkt hat, also mehr als doppelt so lange wie in der KPD.
Ich habe Herbert Wehner 46 Jahre lang gekannt, und als die „Notizen“ geschrieben wurden im gleichen Haushalt gelebt.
Herbert hat die „Notizen“ 1946 nicht geschrieben, um sich zu rechtfertigen, sondern weil er aufgrund seiner Moskauer Erfahrungen immer damit gerechnet hat, er könne ermordet werden, und so zu verhindern, daß dann die Geschichte der KPD, so wie er sie erlebt hatte, im Sinne der KPdSU umgeschrieben und verfälscht werden könnte.
Günter Reimann, sein Freund aus jungen Jahren, hatte sich etwa 1932/33 nach einer Reise in die Sowjetunion von der KPD getrennt, was übrigens nicht wie in der KPD sonst eher üblich zu gegenseitiger menschlicher Verachtung führte. Als Herbert Wehner erfahren hatte, daß Reimann in den USA überlebt hatte, wußte er einen sicheren Empfänger dieses seines Wissens und schickte ihm die „Notizen“.
Wenn der „Spiegel“ schreibt, die „Notizen“ seien erst 1982 veröffentlicht worden, so trifft dies für die Buchform zu, aber es trifft nicht zu für die Möglichkeit, den Text zu kennen.
Mit dem Datum vom 14. März 1957 haben wir in einer großen Zahl die 216 Seiten, originalgetreu, Seite für Seite, vervielfältigt, dazu Herberts Erklärung zu einer Veröffentlichung der Zeitung „Dagens Nyheter“, einen Brief an Adenauer sowie zwei Seiten Pressemitteilungen und ein Anschreiben.
Diese Sammlung hieß bei uns „die graue Mappe“. Die Liste, wer die Mappe erhalten hat, habe ich nicht mehr. Auf jeden Fall hat der „Spiegel“ Kenntnis von dieser an viele verteilten Mappe, und ich bin sicher, daß „der“ „Spiegel“ bzw. Personen, die beim „Spiegel“ waren – oder sind – diese Mappe nicht nur kennen, sondern haben.
Wenn in diesem Bericht des „Spiegels“ von heute, wohl um Herbert Wehners Glaubwürdigkeit zu untergraben, darauf hingewiesen wird, Herbert habe 1946 von zwei Verhören, später dagegen von vier Verhören gesprochen, so möchte ich dazu sagen:
- Herbert hat die „Notizen“ ausschließlich aus dem Gedächtnis niedergeschrieben. Wer wie er illegal lebte, sowohl zu Beginn in Schweden als auch vorher, als er über das Baltikum reisen mußte, wo bereits deutsche Soldaten und damit auch die Gestapo herumliefen, durfte keine schriftlichen Unterlagen bei sich haben.
- Hat nicht jeder von uns erlebt, daß er über eigene Erinnerungen unterschiedlich berichtet hat, und zwar nicht um zu täuschen oder etwas zu verbergen, sondern weil spontane Erinnerungen unterschiedlich wieder auftauchen?
Diesen Grund für die Niederschrift der „Notizen“, das Rechnen mit der Gefahr des eigenen, unnatürlichen Todes und damit des Verlorengehens des eigenen Wissens, hat Herbert in der Frühzeit uns, denjenigen, die ihm nahe standen, gegenüber betont.
Alle anderen späteren Interpretationen, zum Beispiel er habe die „Notizen“ für Kurt Schumacher geschrieben oder um sich selbst darzustellen bzw. „Fehlverhalten“ zu vertuschen, auch daß er sie nachträglich verändert habe, treffen nicht zu.