Auch daraus ist zu lernen!

Leserbrief zu Herbert Wehner in Moskau 1937

Christoph Meyer, Historiker und Vorstand der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung, hat zu einem Artikel in der „Sächsischen Zeitung“ vom 5./6. September 2009 den folgenden Leserbrief verfasst:

Sehr geehrte Damen und Herren,

als Verfasser der ersten wissenschaftlichen Gesamtbiographie über Herbert Wehner (München, dtv 2006) habe ich den Essay von Nicolas Büchse, „Gefangen in Zimmer 252“ in der Sächsischen Zeitung vom 5./6.9.2009 aufmerksam gelesen. Dabei finde ich die Schilderung der beklemmenden und bedrückenden Atmosphäre im Moskauer Emigrantenhotel „Lux“ zur Zeit der stalinistischen Säuberungen sehr beeindruckend.

Fragwürdig ist jedoch die Darstellung der Person und Rolle Herbert Wehners im Jahr 1937. Wenn dort steht „Wie vielen Menschen Wehners Anschuldigungen die Freiheit oder das Leben kosten, ist ungeklärt“, so ist dem hinzuzufügen: Es ist nach wie vor ungeklärt, ob „Anschuldigungen“ Wehners überhaupt zum Untergang irgendeines Menschen geführt haben. Wenn eine „neue Welle des Terrors“ gegen deutsche Emigranten kurz nach Wehners Gesprächen mit dem Geheimdienst beginnt, so bedeutet dies doch nicht, dass es Wehner war, der dies veranlasst oder gar verursacht hat. Herbert Wehners Rolle war nicht die eines eifernden, hassenden „Scharfrichters“; er war nicht Treibender, sondern allenfalls, wie so viele, für eine kurze Phase ein Rädchen im Getriebe des Stalinschen Terrors.

Mit Recht betont Büchse, dass Wehner in Moskau jederzeit selbst der Gefahr ausgesetzt war, verhaftet und verurteilt zu werden. Anders als die überwältigende Mehrzahl der deutschen Kommunisten in der Sowjetunion entging er diesem Schicksal. Wie knapp, geht aus einer Notiz des NKWD-Chefs Nikolai Jeschow aus dem Sommer 1938 hervor. Darin fordert der Volkskommissar ungeduldig die Verhaftung Wehners. Jeschows Sturz rettete wahrscheinlich Wehners Leben.

Wenn Nicolas Büchse behauptet, Herbert Wehner habe bis zu seinem Tod darüber geschwiegen „welche Rolle er in Moskau wirklich gespielt hat“, so ist dies weniger als die halbe Wahrheit. In seinen 1946 in Schweden geschriebenen „Notizen“ (1982 als Buch veröffentlicht) hat Wehner auf über 200 Schreibmaschinenseiten detailliert über seine Erfahrungen in der KPD der 30er und 40er Jahre berichtet. Mehr als 50 Seiten behandeln die „Erlebnisse in Moskau“. Es handelt sich um eine kritische und auch selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Parteikommunismus während der NS-Zeit. Etwas Derartiges ist von keinem anderen führenden KPD-Funktionär überliefert. Die Ulbricht, Pieck, Dahlem und anderen: Sie alle sind schweigend in die Führungspositionen des SED-Regimes eingezogen. Der einzige, der die Konsequenz gezogen hat, nachhaltig mit dem Kommunismus bricht und sich konsequent für eine Politik der Freiheit und des sozialen Ausgleichs einsetzt, Herbert Wehner also, wird zeitlebens und noch nach seinem Tod immer neuen Nachstellungen ausgesetzt. Wer immer die Geheimdienstakten aus Moskau oder Ost-Berlin benutzt, muss wissen: Er oder sie fischt in trüben Quellen.

Wehners Leben und Werk macht all denjenigen Mut, die aus politischen Fehlern und Irrtümern lernen, um engagiert eine bessere Zukunft zu gestalten. Leider steht der öffentliche Umgang mit ihm unter anderem dafür, dass es in der Politik nicht unbedingt gerecht zugeht. Auch daraus ist zu lernen.

Mit freundlichen Grüßen
Christoph Meyer

Auch daraus ist zu lernen!